Zoom auf 140 cm Tischhöhe

Systemnotiz · Haltungsprotokoll

Liebes System
wenn Ironie eine olympische Disziplin wäre, stündest Du zweifellos ganz oben auf dem Siegertreppchen, umgeben von einem goldenen Konfettiregen Deiner eigenen widersprüchlichen Richtlinien. Deine Fähigkeit, clowneske Anforderungen mit todernster Miene zu präsentieren, ist wirklich unübertroffen.

Diese Woche durfte ich wieder einmal eines Deiner Meisterwerke unterzeichnen: Den Homeoffice-Zusatzvertrag. Ein Dokument von beeindruckender Detailtiefe, das mich feierlich dazu verpflichtet, bei mir zu Hause einen ergonomisch einwandfreien Arbeitsplatz sicherzustellen. Tischhöhe justierbar, Stuhl mit Lordosenstütze, Bildschirm auf Augenhöhe – das volle Programm. Nur unter dieser heiligen Prämisse der heimischen Ergonomie-Oase darf ich mich überhaupt mit Deinem firmeneigenen Gerät per VPN mit Dir, dem Hort der Produktivität, verbinden.

"Sorgfaltspflicht!" wirst Du jetzt wahrscheinlich mit bedeutungsschwerer Stimme verkünden. "Wir kümmern uns doch nur um das Wohl unserer Mitarbeitenden!"

Sure. Natürlich. Das glaube ich Dir aufs Wort.

Aber, liebes System, nur eine kleine, rein rhetorische Frage: Hast Du in letzter Zeit mal einen prüfenden Blick in Deine eigenen Meetingräume geworfen? Oder in diese hochmodernen, aber klaustrophobisch anmutenden „Telefonkabinen“, in denen wir stundenlange Zoom-Webinare leiten sollen – inklusive komplexem Screensharing, charmanter Moderation und dem verzweifelten Versuch, nicht wie ein eingesperrtes Zirkustier auszusehen?

Denn, um es mal vorsichtig auszudrücken:

  • Deine Stühle sind ein ergonomischer Witz. Kunstlederbezüge, die im Sommer kleben und im Winter eisig sind. Eine Polsterung, die sich nach 20 Minuten anfühlt wie ein schlecht gelegtes Kopfsteinpflaster. Wenn die Beine nach spätestens 30 Minuten nicht in einen tiefen, protestierenden Taubheitsschlaf gefallen sind, ist man entweder ein anatomisches Wunder oder hat die Blutzufuhr prophylaktisch abgebunden.
  • Deine Tische scheinen für eine Zielgruppe von maximal 1,40 m Körpergröße konzipiert zu sein. Nicht höhenverstellbar, versteht sich (das wäre ja Luxus!), sondern irgendwo bei gefühlten 70 cm zementiert. Pech für jeden, der das Gardemaß eines durchschnittlichen Erwachsenen überschreitet oder gar – oh Schreck – muskulöse Oberschenkel besitzt, die permanent mit der Tischkante im Clinch liegen.
  • Zoom-Meetings, Dein neues Steckenpferd, werden zum orthopädischen Härtetest. Am besten auf einem wackeligen 12-Zoll-Laptop, weil Du ja großzügigerweise keine fixen Büroarbeitsplätze mehr zur Verfügung stellst und man diese digitalen Konferenzen nun "irgendwo" abhalten soll – im Flur, in der Kaffeeküche, auf dem Schoß. Wer nach einer Stunde konzentriertem Starren auf den Mini-Bildschirm und dem krampfhaften Versuch, die Webcam im richtigen Winkel zu halten, noch keinen steifen Nacken oder beginnenden Bandscheibenvorfall hat, muss genetisch aus purem Titan gefertigt sein.

Und selbst wenn meine Einrichtung zu Hause nicht dem Goldstandard eines Silicon-Valley-CEO-Büros entspricht: Hier kann ich wenigstens barfuß arbeiten (die reine Freiheit!). Ich kann, ohne komische Blicke zu ernten, ein Bein angewinkelt auf einen zweiten Stuhl legen. Ich kann jederzeit aufstehen, mich kurz an meine an der Decke montierten Turnringe hängen (ja, die gibt's wirklich!), einen Hund von unten betrachten (entspannt ungemein!) oder – Gott bewahre – ein kniffliges E-Mail-Konzept auf dem Sofa vordenken, bevor ich es in die Tasten hacke. All diese kleinen, subversiven Akte der körperlichen Selbstbestimmung.

Ich weiß, liebes System, das muss Dich jetzt unglaublich schockieren. So viel unkontrollierte Bewegungsfreiheit und individuelle Ergonomie!

Aber anstatt Dir weiterhin den Kopf darüber zu zerbrechen, ob und wie ich es denn wohl schaffe, zu Hause unter ergonomisch fragwürdigen Bedingungen (laut Deinem Vertrag) irgendwie produktiv zu sein: Wie wäre es, wenn Du die gleiche Akribie und Sorgfalt mal auf die Infrastruktur in Deinen eigenen heiligen Hallen anwenden würdest? Stell doch bitte wenigstens dort Stühle bereit, die diesen Namen auch verdienen, und Tische, an denen man sitzen kann, ohne sich wie ein zusammengefalteter Origami-Kranich zu fühlen.

Das würde vielleicht nicht alle Probleme dieser Welt lösen.
Und es würde meine Rückenschmerzen nicht wegzaubern.

Aber es wäre ein Anfang. Ein kleines, ehrliches Zeichen, dass Dir das Wohl Deiner Mitarbeiter nicht nur auf dem Papier wichtig ist.

In gespannter Erwartung auf höhenverstellbare Tatsachen

Deine
Irrelevant

 
PS: Ich schreibe diesen Brief im Stehen – auf einem Stapel von Firmenrichtlinien, die meine Haltung zwar prüfen, aber nie wirklich tragen. 🪑📄