Willkommen im System: Eine Odyssee in mehreren Akten

Du willst den Job. Du brauchst das Einkommen. Also ziehst du dir die Maske über und trittst auf. Willkommen im System – ein Stück in vielen Akten, mit wechselnder Besetzung, aber altbekanntem Skript.


Akt 1: Das Casting deiner Seele

Die Bühne ist bereitet: Ein karger Raum, zwei Schauspielende, das Licht grell. Du betrittst die Szene mit einem Lächeln, das Professionalität und innere Leere perfekt balanciert.

Deine Rolle? „Der perfekte Fit“. Du hast die Firmen-Website studiert, das Drehbuch sitzt. Deine ersten Zeilen:

  • OpenSpace, CleanDesk, hitzestauige Büros ohne funktionierende Rollos? „Kein Problem!“
  • Stressresistent und dienstleistungsorientiert? „Aber natürlich, quasi mein zweiter Vorname!“
  • „Familiäres Umfeld“? Du ahnst: Zero Boundaries. Doch du lächelst.

Die Regie schaut zufrieden. Du funktionierst. Bis du – völlig aus dem Skript fallend – eine eigene Frage stellst: „Wie spiegeln sich denn Ihre Firmenwerte in der eingesetzten Hard- und Software wider?“

Stille. Ein dramaturgischer Fehltritt. Die HR-Person improvisiert: „Sie dürfen wählen: Apfel oder Fenster!“

Aha. Werte zum Anklicken.

Du lächelst erneut. Der Rest des Vorsprechens ist Routine. Du applaudierst innerlich zu Betriebsausflügen (Überraschung! Bis 22 Uhr!) und Weiterbildungen (gegen Burnout, nicht gegen Systemstress). Die Frage nach Open Source? Buh-Rufe aus dem Orchestergraben.

Die kognitive Dissonanz flüstert ihren ersten Monolog. Der Vertrag wird unterschrieben. Der Vorhang fällt.

Essen und ein Dach über dem Kopf – auch das sind Rollen, die man spielt.

📎 "Perfect fit" = Perfekt Fake

Akt 2: Erste Szene – Das Bühnenbild wackelt

Euphorie trifft auf leichte Panik. Du bist um 9 Uhr da. Um 9:30 Uhr saust jemand an dir vorbei – "Sorry, Kinderhort!" Du denkst: "Immerhin, hier arbeiten Menschen!"

Dein Namensschild an der Tür: falsch geschrieben. Du prüfst das Skript. Nein, das stand da nicht.

Ein Techniker mit Headset bringt Requisiten: dein Arbeitsgerät. Apfel oder Fenster – du erinnerst dich. Du reichst das Passwort: mindestens zwölf Zeichen, ein Sonderzeichen, monatlich neu. Dein neues Mantra: PasswortMonatJahr!

Du erkundigst dich flüsternd nach der Mobilität des Geräts. Die Souffleuse zischt: "Total unsicher!" Für das Gerät – nicht für dich. Auftritt deines alten Laptops in Gedanken – leichter, schneller, loyal. Doch nicht autorisiert.

Das neue Requisit wird dein Klotz am Bein. Nur sichtbares Tippen zählt als Handlung. Jede Szene im Zug, im Meeting, zu Hause – eine Performance.

Einarbeitung: kein Skript, nur ein chaotisches Archiv. "Lies dich ein. Frag, wenn was ist." Die erste Ensemble-Probe – Kaffeepause. Applaus, dass du da bist. Subtext: Wir haben dich erwartet. Wir sind müde. Du bist unsere Pause.

Nahtlose Übergänge? Theatermythos.

Ein schwerer Laptop wird als "Requisite" über den Flur getragen
📎 ... wenn der Bildschirm tatsächlich diese Dimenson hätte, wäre die Schlepperei vll. sogar legitim?

Akt 3: Das soziale Bühnenbild – oder: Zwischen Pflichtapplaus und Requisiten-Kuchen

Der Vorhang hebt sich: Ensemble-Einführung.
Du trittst auf in Szene 1 – Team-Meeting.
Die Regie ruft zur Vorstellungsrunde. Die Kolleg:innen seufzen stumm, aber niemand verlässt den Text. Das Skript ist bekannt.

Du sprichst deinen Namen. Deine Rolle. Deine bisherige Karriere in 23 Sekunden. Leichtes Nicken, kurze Lacher – Szenenapplaus.

Dann: Social Subtext. Kollegin X hat Geburtstag. Du erwartest Bühnenfloristik und vielleicht einen Geschenkkorb? Falsch.

Die Requisite:

  • Ein Sparschwein.
  • Eine Karte.
  • Ein Umschlag für "freiwillige" Spenden.
  • Eine Gesangseinlage. Gemeinsam. Im Büro.

Du wirst zur Dichtung aufgefordert. Ein Reim. Oder wenigstens ein liebevoller Gedanke. Unter Aufsicht. Während die Sekretärin mit dem Stift bereitsteht.

Drei Tage später die Mail: "Wir bräuchten noch Kuchenspenden fürs Apero!"

Du bist neu. Du bist Teil. Du bist jetzt schon müde.

📎 aka: die Horrorshow!

Szene 2: Betriebsausflug – die Pflichtaufführung

Online-Umfrage: Sichtbare Anmeldung oder Abmeldung. Du klickst auf Nein danke. Kurz darauf: besorgte Rückfragen. Zunächst durch Kolleg:innen. Dann: die Regieassistentin (auch bekannt als Sekretariat) ruft dich auf den Nebenbalkon. "Möchtest du das Team nicht kennenlernen?"

Subtext: Dein Verzicht ist Sabotage.

Der Ausflug dauert bis 22 Uhr. Abendessen inklusive. Applaus für alle, die bis zum Schluss bleiben. Wer früher geht, bekommt kein Dessert – nur Blicke.


Akt 4: Das "Feedback"-Gespräch – oder: Szenen mit Souffleur

HR lädt zum Gespräch. Feedback zum Onboarding. Ob du alles hast. Du wagst es: "Wäre es möglich, einen Desktop-PC zu nutzen und remote zuzugreifen?"

Die Antwort, ein Lächeln, das nicht die Augen erreicht: "Das wäre nicht ökologisch, einen PC ständig laufen zu lassen."

Du sitzt in einem hermetisch abgeriegelten, klimatisierten Gebäude mit 25 % Luftfeuchtigkeit und denkst an "Nachhaltigkeit". Dir fehlt die Spucke für eine Erwiderung. Du bist ein Rädchen. Du darfst duzen, aber Macht hast du keine.

Zwischenszene: Die Loyalitätsprüfung

Die Regie fragt mit gespieltem Ernst: „Wie geht es dir im Team? Fühlst du dich gut unterstützt?“

Du atmest kurz durch. Die Luft flimmert. Kein Souffleur weit und breit. Du weißt: Alles außer enthusiastischem Beifall wäre ein riskanter Improvisationsversuch. Ein zu zögerndes „Ja, doch, meistens“ wird in der Dramaturgie als „Problemfall“ gelesen. Und Problemfälle verlängern keine Probezeit.

Du lächelst. Du nickst: „Alle sehr hilfsbereit. Wirklich ein tolles Team.“

Ein Häkchen erscheint auf dem ClipBoard der Dramaturgie.
Die Szene ist bestanden.

📎 Jetzt einfach nicht blinzeln!

Finale: Das Labyrinth – oder: Die letzte Kulisse

Das Licht wird gedimmt. Die Bühne leert sich. Nur du bleibst zurück – zwischen Requisiten und Regeln, Masken und Mustern.

Das System hat dich. Es formt, es fordert, es „optimiert“. Und während du versuchst, deine Arbeit zu erledigen, navigierst du durch ein Labyrinth aus unausgesprochenen Vorschriften, höflichem Druck und Ritualen, die alle nur „das Beste“ wollen.

Der Vorhang fällt nicht. Er bleibt halb offen.
Ein letzter Blick ins Publikum: leer. Oder wartend?

Man gewöhnt sich dran. Oder auch nicht.

📎 Oder: der Anfang vom Ende.