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The Archival Burden of Feelings
Eine qualitative Analyse affektiver RestbestĂ€nde in bĂŒrokratischen Systemen
Abstract
In dieser Studie wird untersucht, wie Organisationen versuchen, Emotionen ihrer Mitarbeitenden zu erfassen, zu kanalisieren oder zu neutralisieren â und warum all diese BemĂŒhungen systematisch scheitern. Basierend auf einer multi-site Analyse von Meetingprotokollen, Umfragen, internen Kommunikationsrichtlinien und alltĂ€glichen BĂŒropraktiken zeigt sich ein konsistentes Muster: GefĂŒhle werden als âStörfaktorenâ begriffen, die verwaltet, kategorisiert oder in harmlose Formen ĂŒberfĂŒhrt werden mĂŒssen.
Diese Studie entwickelt den Begriff der affektiven RestbestĂ€nde: jene emotionalen RĂŒckstĂ€nde, die nach dem organisatorischen Versuch, Ambivalenzen zu glĂ€tten, in Systemen zurĂŒckbleiben. Dazu zĂ€hlen ironische Zustimmung, verdeckte Erschöpfung, stille Verzweiflung, performative Zuversicht und das weit verbreitete PhĂ€nomen der âfreundlichen Resignationâ.
Die Analyse legt offen, dass institutionelle Versuche, GefĂŒhle messbar zu machen â etwa durch Zufriedenheitsumfragen, Stimmungs-Ampeln, Check-ins, Feedback-Skalen oder Doodle-Kommentarfelder â weniger der emotionalen RealitĂ€t dienen als der Aufrechterhaltung eines Narrativs: Alles ist unter Kontrolle. Alles ist gut. Wir sind eine Familie.
Das zentrale Paradoxon dieser Befunde: WĂ€hrend Organisationen versuchen, affektive KomplexitĂ€t zu reduzieren, produzieren sie unfreiwillig neue Formen emotionaler Ăberforderung. Die Ergebnisse zeigen, dass Emotionen weder in Tabellen, noch in LeitfĂ€den, noch in institutionalisierten Ritualen verschwinden, sondern sich in versteckten Affektökonomien sammeln, wo sie neue Bedeutungen annehmen.
Diese Studie argumentiert, dass das Management von GefĂŒhlen nicht primĂ€r ein ethisches oder psychologisches Problem ist, sondern ein epistemisches: Systeme, die emotionales Leben katalogisieren wollen, produzieren zwangslĂ€ufig blinde Flecken. Und genau in diesen blinden Flecken beginnt das Eigentliche.
Methodik
Die vorliegende Studie folgt einem multiperspektivischen Design, das darauf abzielt, affektive Prozesse in institutionellen Kontexten nicht als psychologische PhÀnomene, sondern als administrative Artefakte zu analysieren. Die Methodik kombiniert dokumentarische Analyse, teilnehmende Beobachtung und die Rekonstruktion affektiver Signale aus organisationalen Nebenprodukten.
Im Zentrum stehen drei Datenquellen:
- Affektprotokolle:
informelle GesprĂ€chsnotizen, E-Mail-Formulierungen, Tonlagen in Teammeetings sowie institutionelle Phrasen mit hohem emotionalen Verdichtungsgrad (z. B. âwir verstehen, dass dies eine intensive Zeit istâ). - Ambivalenzartefakte:
Zufriedenheitsumfragen, Doodle-Kommentare, anonyme Feedbackfelder, JubilĂ€umskarten sowie jegliche organisationalen Rituale, die GefĂŒhle voraussetzen, aber nicht adressieren. - Restbestandsdaten:
jene affektiven RĂŒckstĂ€nde, die nach strukturellen Konflikten, RessourcenengpĂ€ssen oder performativer Harmonieproduktion im System verbleiben (z. B. MĂŒdigkeitsantworten im Smalltalk, fluchtartige Gangwechsel, stumme Mikro-pausen in Sitzungen).
Die Auswertung erfolgte in zwei Schritten:
- Emotionales Pre-Processing:
Die extrahierten Aussagen wurden in drei Kategorien ĂŒberfĂŒhrt: freundliche Resignation, performative Zuversicht und administrierte Ambivalenz. Alle nicht zuordenbaren Datenpunkte wurden als affektive RestbestĂ€nde klassifiziert. - Affektökonomische Rekonstruktion:
Die Kategorien wurden hinsichtlich ihrer Funktion im institutionellen Gleichgewicht analysiert. Methodisch orientiert sich dieser Schritt an einer modifizierten Form der Grounded Theory, bei der nicht nach Wahrheit, sondern nach EnergieflĂŒssen gesucht wird. Dies ermöglicht die Identifikation jener Stellen, an denen GefĂŒhle administrativ abgefangen, umgeleitet oder neutralisiert werden.
Statistische Modelle wurden nicht angewendet, da GefĂŒhle in Tabellen ohnehin nur als Rauschen erscheinen. Stattdessen wurde eine qualitative Restbestandsanalyse genutzt, die darauf abzielt, was ĂŒbrig bleibt, wenn alles andere optimiert wurde, sichtbar zu machen.
Ergebnisse (Auszug)
1. Administrative Empathie â Das Ritual des vorsichtigen Bedauerns
In allen untersuchten FĂ€llen zeigte sich ein identisches Muster: Belastungen werden formal anerkannt (âwir verstehen, dass dies eine intensive Zeit istâ), jedoch ohne strukturelle Konsequenz. Die Aussage fungiert als affektive Beruhigungsgeste, nicht als Handlungsimpuls. Mitarbeitende berichten, dass dieser Satz seit Jahren unverĂ€ndert im Umlauf ist, unabhĂ€ngig von Kontext, Arbeitsvolumen oder Teamzustand. Die Folge ist eine Form der freundlichen Resignation: das GefĂŒhl, gehört zu werden, ohne dass das Gehörte eine Bedeutung hat.
2. Die Normierung der Zufriedenheit â Affekt als Compliance-Indikator
Zufriedenheitsumfragen dienen weniger der emotionalen LageeinschĂ€tzung als der StabilitĂ€t eines gewĂŒnschten Organisationsbildes. Abweichungen vom erwarteten Mittelwert werden als AuffĂ€lligkeiten markiert, die durch Teamleitungen korrigiert werden sollen. In mehreren FĂ€llen wurde dokumentiert, dass konstruktive Kritik durch moralische Appelle (âsei dankbar fĂŒr deinen Jobâ) entschĂ€rft oder umgedeutet wurde. Die Umfrage wird dadurch zu einem Instrument der affektiven Normangleichung, nicht der Erkenntnisgewinnung.
3. Affective Drift in Monday Meetings â Wenn Ehrlichkeit als Fehlfunktion gilt
Die Frage âWie gehtâs?â erfĂŒllt in institutionellen Kontexten primĂ€r eine rituelle Funktion. Ehrliche Antworten (âmĂŒdeâ, âerschöpftâ, âĂŒberfordertâ) fĂŒhren regelmĂ€Ăig zu KommunikationsabbrĂŒchen oder halbautomatischen Umleitungen (âah ja, mir auch gutâŠâ). Dieser affektive Drift zeigt, dass nicht die GefĂŒhle selbst zu viel sind, sondern ihre Unsicherheit: Das System kann mit Ambivalenz nicht arbeiten und bevorzugt daher die StabilitĂ€t der Skriptreplikation.
4. Burnout als Kulisse â Die Ăsthetisierung der Erschöpfung
In mehreren untersuchten FĂ€llen zeigte sich, dass kollektive Ăberlastung zum Normalzustand geworden ist, ohne als strukturelles Signal anerkannt zu werden. Obwohl bis zu zwei Drittel eines Teams Symptome von Erschöpfung zeigen, werden zusĂ€tzliche Aufgaben erwogen, sofern sie âein gutes Bild im Jahresbericht abgebenâ. Die rhetorische Formel âwir wissen, dass ihr viel zu tun habt⊠aberâŠâ fungiert als moralische Vorrede zur Intensivierung der Belastung. Burnout wird dadurch nicht als Risiko betrachtet, sondern als kulissenhafte Ressource, die das Narrativ von Engagement und AktivitĂ€t stĂŒtzt.
5. Das JubilĂ€umsparadox â Zuneigung als Verwaltungsakt
JubilĂ€en werden hĂ€ufig durch handschriftliche Postkarten markiert, deren Absender:innen den EmpfĂ€nger:innen nicht persönlich bekannt sind. Diese Praxis erzeugt eine paradoxe Stimmung: ein GefĂŒhl der institutionellen NĂ€he, das gleichzeitig auf Distanz basiert. Die Geste soll Bindung erzeugen, hinterlĂ€sst jedoch hĂ€ufig âunspezifisches Unbehagenâ und das diffuse Empfinden, in eine Beziehung verwickelt zu sein, die nur verwaltungstechnisch existiert.
6. Die Fehlinterpretation des RĂŒckzugs â Intrusionsdruck in sozialen MikrorĂ€umen
Die Beobachtung zeigt ein konsistentes Muster: RĂŒckzugssignale werden institutionell hĂ€ufig als Einladung zur AnnĂ€herung interpretiert. Eine Person versucht, eine Situation zu verlassen; eine zweite Person ruft hinterher: âHeeyyy, ich habe dich so lange nicht mehr gesehen!â Diese Fehlinterpretation verweist auf ein systemisches Defizit im Erkennen von Ambivalenz und fĂŒhrt zu erhöhter sozialer Ăbergriffigkeit in Mikrointeraktionen. RĂŒckzug wird dadurch nicht als BedĂŒrfnis, sondern als Kommunikationsfehler betrachtet.
7. Performative Zuversicht â Die Jahresansprache als affektive Choreografie
Leitungsansprachen folgen einer wiederkehrenden Struktur: Die institutionelle Lage wird als âausgezeichnetâ beschrieben, gefolgt von der AnkĂŒndigung, im kommenden Jahr ânoch mehrâ zu leisten â bei unverĂ€nderten Ressourcen. Diese Form der performative Zuversicht verdeckt strukturelle Grenzen und produziert ein affektives Klima, in dem Widerspruch als IlloyalitĂ€t gelesen wird. Emotionale RealitĂ€t wird zur Dekoration des Fortschrittsnarrativs.
Diskussion â Die institutionelle Verwaltung des Unaussprechlichen
Die vorliegenden Befunde legen nahe, dass institutionelle Versuche, Emotionen zu adressieren, weniger der affektiven RealitĂ€t der Mitarbeitenden dienen als der Stabilisierung organisationaler Selbstbilder. GefĂŒhle werden nicht als Hinweise verstanden, sondern als Störungen im Ablauf; sie sollen nicht gehört, sondern eingeordnet werden.
Zentral ist dabei das paradoxe Zusammenspiel von formaler Anerkennung und faktischer Entwertung:
Belastung wird benannt, aber nicht bearbeitet;
Kritik wird eingeladen, aber neutralisiert;
Ehrlichkeit wird abgefragt, aber als Abweichung gedeutet.
Diese Praktiken erzeugen eine doppelte Struktur: Ausdruck wird gefordert,
Affekt jedoch systematisch begrenzt.
Die Analyse der Daten zeigt, dass Organisationen eine PrĂ€ferenz fĂŒr affektive Klarheit entwickeln â eine Art emotionales Monochrom, das weder Ambivalenz noch Tiefe zulĂ€sst. Unsicherheit wird als Risiko interpretiert, obwohl sie in der Praxis ein natĂŒrlicher Bestandteil menschlicher Arbeit ist. Stattdessen entsteht eine Kultur der affektiven GlĂ€ttung: ein Zustand, in dem alles gerade so harmonisch wirkt, dass nichts in Bewegung geraten muss.
Dieses GlĂ€tten emotionaler RealitĂ€ten hat jedoch systemische Nebenwirkungen. Werden GefĂŒhle nicht in ihrer KomplexitĂ€t verstanden, sammeln sie sich als affektive RestbestĂ€nde:
MĂŒdigkeit, die nicht ausgesprochen werden darf;
Frustration, die als Undankbarkeit gilt;
NĂ€hegesten, die Distanz erzeugen;
Zuversicht, die zur Pflicht wird.
GefĂŒhle verschwinden nicht â sie wechseln lediglich den Aggregatzustand.
Die institutionelle Blindheit entsteht daher nicht aus böser Absicht, sondern aus einer epistemischen Begrenzung: Systeme, die affektive KomplexitĂ€t katalogisieren wollen, können nur das wahrnehmen, was sich in Tabellen eintragen lĂ€sst. Alles andere fĂ€llt durch die Raster und wird im informellen Raum abgelegt: in Blicken, in Mikro-Pausen, in fluchtartigen Gangwechseln, in ironischen Doodles, in jenen kurzen Momenten, in denen ein âmir geht es gutâ nicht lang genug hĂ€lt.
Die hier beschriebenen Dynamiken zeigen, dass das Problem weniger im Umgang mit GefĂŒhlen liegt, als in der institutionellen Vorstellung davon, was GefĂŒhle sein sollten. Nicht die Emotionen sind das Risiko â sondern die Annahme, dass sie sich verwalten, normieren oder aus dem Organisationsalltag herauskurieren lassen.
Abbildung 2. Affective Residue Map â Verteilung affektiver RestbestĂ€nde
Hinweis: Daten wurden bereinigt, um Irritationen im Management zu vermeiden.
Empfehlungen fĂŒr die Praxis â Prototypen eines gefĂŒhlskompatiblen Betriebsklimas
Auf Grundlage der vorliegenden Metaanalyse schlagen wir MaĂnahmen vor, die das institutionelle BedĂŒrfnis nach StabilitĂ€t respektieren, ohne die affektive RealitĂ€t der Mitarbeitenden unnötig zu berĂŒhren. Die Empfehlungen wurden so gestaltet, dass sie strukturelle VerĂ€nderung weder erzwingen noch verhindern â sondern höflich umkreisen.
1. EinfĂŒhrung des âEmotional Baseline Protocolâ (EBP)
Jede Woche wird eine institutionell definierte Grundstimmung (z. B. âoptimistisch erschöpftâ) kommuniziert. Mitarbeitende dĂŒrfen davon abweichen, mĂŒssen dies jedoch nicht deklarieren. Ziel ist die Harmonisierung kollektiver Affekt-Erwartungen, ohne den Aufwand echter Kommunikation.
2. Implementierung eines âGefĂŒhls-Korridorsâ
Analog zu Temperaturbereichen in ServerrĂ€umen wird ein affektiver Toleranzbereich festgelegt (z. B. ±15 % MĂŒdigkeit, ±10 % Frustration). ZustĂ€nde auĂerhalb des Korridors gelten als âmethodisch nicht verwertbarâ und werden zu statistischem Rauschen erklĂ€rt.
3. EinfĂŒhrung des âSilently Overwhelmed Badgeâ
Ein kleines, unauffĂ€lliges Symbol am Laptop, das signalisiert: âIch bin heute freundlich, aber bitte nicht in mein Nervensystem greifen.â Das Badge schafft Raum fĂŒr Grenzziehung, ohne dass jemand darĂŒber sprechen muss.
4. Einrichtung einer âAbteilung fĂŒr kuratiertes Enthusiasmus-Managementâ
Diese Einheit ist verantwortlich fĂŒr die prĂ€zise Dosierung institutioneller Begeisterung. Sie achtet darauf, dass AnkĂŒndigungen nicht lĂ€nger als 27 Sekunden euphorisch wirken und dass Teammitglieder nicht erneut applaudieren mĂŒssen.
5. Quartalsweise DurchfĂŒhrung eines âEmotional Load Forecastâ
Nach dem Modell meteorologischer Vorhersagen wird berechnet, wie viel Belastung das System in den kommenden Monaten vermutlich erzeugen wird. Prognosen dĂŒrfen ignoriert werden, solange sie in PowerPoint gut aussehen.
6. Optional: EinfĂŒhrung einer âRecovery Hourâ
Eine Stunde pro Woche ohne Meetings, Mails oder Teams-Notifications, offiziell als Regeneration gedacht, inoffiziell als Zeitfenster fĂŒr Menschen, die versuchen, ĂŒberhaupt erst herauszufinden, wie sie sich fĂŒhlen.
7. Empfehlung zur Nicht-Empfehlung
Alle folgenden MaĂnahmen gelten als implementiert, sobald sie kommunikativ erwĂ€hnt wurden. Die tatsĂ€chliche DurchfĂŒhrung ist aus GrĂŒnden der psychischen Sicherheit bis auf Weiteres ausgesetzt.
Schlussfolgerung
Institutionen sind nicht gefĂŒhlskalt â sie sind gefĂŒhlsĂŒberfordert. Hinter jeder Richtlinie, jedem Meeting und jeder empathischen Floskel zeigt sich der Versuch, das Unmessbare zu verwalten: menschliche Stimmung, VerĂ€nderungsdruck, die Angst vor Bedeutungsverlust.
Die vorliegende Analyse zeigt, dass affektive Praktiken nicht Nebenprodukte organisationaler Kultur sind, sondern deren unsichtbare Steuerungslogik. Die wirkliche Frage lautet daher nicht, âWie fĂŒhlen Mitarbeitende?â sondern: âWelcher Teil ihres FĂŒhlens ist institutionell anschlussfĂ€hig?â
Vielleicht beginnt echte Transformation nicht in neuen Konzeptpapieren, sondern im Moment, in dem eine Organisation bemerkt, dass sie nicht nur Prozesse, sondern Menschen verwaltet â und dass Menschen nicht im Governance-Korridor funktionieren.
Keine Policy und kein Kader wurden bei dieser Studie verletzt;
lediglich ein Restbestand an Empathie wurde leicht angekokelt.

