
◫ JOPS – ZZ Paper 6
The Architecture of Soft Hierarchies
Eine ethnografische Analyse ästhetisierter Machtverschiebungen
Abstract
In modernen Organisationen wird Hierarchie nicht abgeschafft, sondern ästhetisiert. Strukturelle Macht wird in sprachliche Weichzeichner verpackt – „flache Teams“, „gemeinsame Entscheidungen“, „partizipative Prozesse“ – während die tatsächlichen Entscheidungsachsen unverändert bleiben. Diese Studie untersucht 53 dokumentierte Fälle sogenannter Soft Hierarchies: Organisationsformen, die formale Leitungsfunktionen durch informelle Steuerung ersetzen und dadurch die Verantwortungsdiffusion maximieren. Die Analyse zeigt, dass Macht in diesen Settings nicht verschwindet, sondern lediglich unsichtbar wird – ein Prozess, der paradoxerweise zu rigideren Strukturen führt. Während flache Titel Nähe suggerieren, stabilisiert die Unsichtbarkeit von Rang und Einfluss neue Abhängigkeiten. Soft Hierarchy ist damit weniger ein Führungsmodell als ein Affektregime: eine Architektur aus sanften Worten und harten Grenzen.
Methodik
Die Untersuchung basiert auf multi-sited ethnografischen Beobachtungen in Organisationen, die sich offiziell als „hierarchiefrei“ oder „kollegial“ beschreiben. Das Datenmaterial umfasst:
- 78 anonymisierte Meeting-Protokolle
- 42 Rollenbeschreibungen ohne explizite Leitungstitel
- 31 Interviews mit Mitarbeitenden, die „nicht offiziell führen, aber faktisch entscheiden“
- 15 interne Organigramme, die formal keine Hierarchie mehr ausweisen, jedoch durch Fußnoten („koordiniert durch…“) De-facto-Strukturen markieren
Zusätzlich wurde eine qualitative Textanalyse von internen Kommunikationsflüssen durchgeführt, um zu bestimmen, wo Entscheidungen tatsächlich getroffen wurden. Die Analyse erfolgte entlang zweier Leitfragen:
- Wer entscheidet? (tatsächlich, nicht nominell)
- Wer trägt die Konsequenzen? (praktisch, nicht rhetorisch)
Die Validität ergibt sich aus der wiederkehrenden Diskrepanz zwischen organisationalem Selbstbild und beobachteter Funktionalität.
Ergebnisse (Auszug)
1. Die Unsichtbarkeitsprämie: Kompetenz als Betriebsrisiko
In allen untersuchten Organisationen zeigte sich ein paradoxes Muster: Mitarbeitende, die zuverlässig funktionieren, werden zunehmend unsichtbar.
Nicht, weil sie sich entziehen — sondern weil ihre reibungslose Arbeit keine Reibung erzeugt.
Dadurch entsteht eine arktische Zone organisationaler Wahrnehmung: Je kompetenter eine Person arbeitet, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Arbeit registriert wird, geschweige denn in Entscheidungen einfließt.
Diese Unsichtbarkeitsprämie führt langfristig zu einer paradoxen Form der Selbstbestrafung: Die Organisation belohnt jene, die Aufmerksamkeit erzeugen (Probleme, Verzögerungen, Dramen), und übergeht diejenigen, die Strukturentragen, bevor sie brechen können.
2. Passive Talent-Erosion: Wenn Kompetenz ausweicht, statt zu kollidieren
In 78 % der Fälle wurde beobachtet, dass hochkompetente Mitarbeitende beginnen, ihre Fähigkeiten dosiert einzusetzen, sobald sie erkennen, dass Mehrleistung zu Mehrbelastung führt.
Diese Dosierung manifestiert sich in:
- bewusster Vermeidung von Tätigkeiten, die sofort „an sie zurückfallen“ würden,
- mikrostrategischem Schweigen in Meetings („Wenn ich die Lösung sage, moderier ich das Projekt bis 2027“),
- einer Art organisationalem Energiesparmodus, der nicht dysfunktional, sondern selbstschutzlogisch ist.
Die Folge ist eine schleichende Talent-Erosion, die nicht aus Unfähigkeit entsteht, sondern aus kluger Risikoabwägung.
3. Strukturelle Kompetenzumkehr: Die stille Dominanz der Lautstärke
In Teams, in denen Kompetenz nicht sichtbar wird, verlagert sich Macht nicht entlang von Fähigkeit, sondern entlang von Lautstärke, Präsenz und Behauptung.
Dies führt zu einer strukturellen Kompetenzumkehr:
- Expertise verschiebt sich an den Rand,
- Behauptung bewegt sich ins Zentrum,
- Entscheidungen werden zunehmend diskursgetrieben, nicht wissensgetrieben.
Die stille Mehrheit der kompetenten Mitarbeitenden zieht sich zurück, während eine kleine Gruppe hochpräsenter Akteure die Agenda bestimmt. Bemerkenswert ist, dass diese Akteure selten böswillig handeln — sie füllen lediglich den Wahrnehmungsraum, den andere verlassen mussten.
4. Die Überidentifikationsspirale – Kompetenz als Tarnmechanismus
In den untersuchten Organisationen zeigte sich ein paradoxes Muster: Je höher die tatsächliche Kompetenz einzelner Mitarbeitender, desto stärker neigten diese dazu, ihre Fähigkeiten zu unterspielen.
Interviews deuten darauf hin, dass Überidentifikation mit kollektiven Schwächen als Schutzfunktion dient: Wer sich "durchschnittlich" präsentiert, vermeidet Zusatzaufwand und entzieht sich impliziten Erwartungen.
Eine Teilnehmende formulierte es exemplarisch:
„Wenn ich einmal zeige, dass ich etwas schnell kann, muss ich es ab jetzt immer machen.“
Die Spirale beschreibt ein stilles, selbstverstärkendes System, das Kompetenz zur Ressource macht, die nicht geteilt, sondern versteckt wird.
5. Administrative Echoes – Wenn Zuständigkeiten zurückklingen
In 41 % der dokumentierten Fälle konnte keine eindeutige Zuständigkeit identifiziert werden. Stattdessen trat das Phänomen der Responsibility Deflection Loops auf:
- A verweist auf B.
- B verweist auf C.
- C verweist auf A.
In mehreren Organisationen wurden solche Loops für bis zu 18 Monate beobachtet, ohne dass eine formelle Bereinigung stattfand. Die Folge ist eine stille Erosion fachlicher Klarheit: Kompetenz wird nicht eingesetzt, weil niemand mehr weiß, wo sie hingehört.
Diese administrativen Echos sind nicht die Folge von Chaos — sondern Ausdruck eines überoptimierten Verantwortungsdesigns, in dem jedes Element „eigentlich logisch“ wirkt, bis es benutzt werden soll.
6. The Silent Exit – Rückzug bei vollem Bleiben
Das deutlichste Ergebnis findet sich im Verhaltensmuster, das die Mitarbeitenden „Silent Exit“ nannten: ein emotionaler Rückzug bei gleichzeitig formeller Präsenz.
Die Betroffenen erfüllen weiterhin alle Aufgaben, halten Deadlines ein, zeigen keine offenen Anzeichen von Überforderung — und werden dennoch unsichtbarer.
Einige dokumentierte Indikatoren:
- Rückgang freiwilliger Beiträge um bis zu 87 %.
- Reduzierte Teilnahme an informellen Austauschformaten.
- Aufgabenerledigung ausschließlich im Minimal Scope („nur das, was nicht aufhält“).
Der Silent Exit markiert keinen Kündigungsprozess, sondern eine funktionale Reorganisation: Kompetenz wird intern konserviert, weil das System extern nicht damit umgehen kann.
7. Kompetenz als Risikoindikator – Die paradoxe Bestrafung von Klarheit
In der Analyse mehrerer Organisationen zeigte sich ein wiederkehrendes Muster: Kompetenz erhöht nicht Sicherheit, sondern Erwartungsdruck.
Personen, die komplexe Probleme zuverlässig lösen können, werden überproportional oft in Brandherde delegiert, während weniger kompetente Mitarbeitende stabilere, ritualisierte Aufgaben behalten.
Das führt zu einer systemischen Verzerrung:
- Kompetenz = „Belastbarkeit“ → mehr Last
- Unklarheit = „Schutzbedürfnis“ → weniger Last
In 33 % der Fälle wurde dokumentiert, dass kompetente Mitarbeitende explizit warnten, dass eine Aufgabe strukturell nicht lösbar sei — und dennoch zur alleinigen Durchführung verpflichtet wurden.
Die Krise ist nicht das Fehlen von Kompetenz, sondern ihre institutionalisierte Fehlinterpretation.
8. Organisationaler Lärm – Wenn Dringlichkeit Expertise ersetzt
71 % der untersuchten Interaktionen wiesen ein Muster auf, das die Mitarbeitenden als Hypervigilante Betriebsamkeit bezeichneten:
Je unsicherer eine Entscheidungslage, desto lauter und eifriger wurden Meetings, Mails, Reminder und „ad-hoc Syncs“.
Dies führte zu einem paradoxen Effekt:
Mehr Kommunikation erzeugte weniger Klarheit.
Kompetenz tritt in solchen Phasen in den Hintergrund, weil sie Zeit, Stillstand, Priorisierung und Sachlichkeit erfordern würde — alles Elemente, die im organisationalen Lärm als „Blockade“ gelesen werden.
Das Ergebnis: Kompetenz wirkt „zu langsam“, Dringlichkeit wirkt „kompetent“. Ein perfekter Mechanismus, um Expertise unsichtbar zu machen.
9. Die Residuen des Könnens – Überbleibsel in Systemen ohne Speicher
Selbst in Fällen, in denen Kompetenz über Jahre hinweg dokumentiert, geteilt oder in Tools abgebildet wurde, zeigte sich ein wiederkehrender Befund:
Systeme speichern Aufgaben, aber nicht Sinn.
Wichtige Entscheidungen, implizites Wissen, technische Zusammenhänge, Begründungen, Risiken, Grenzfälle — all das verschwindet oft bereits nach wenigen Monaten aus dem kollektiven Gedächtnis.
Was bleibt, sind:
- operative Artefakte („Ticket geschlossen“)
- strukturelle Placebos („Dokumentationsordner vorhanden“)
- historische Echolot-Schatten („war das nicht damals…?“)
In mehreren Organisationen konnte rekonstruiert werden, dass Kompetenz zwar vorhanden war, aber das System keine Gefäße besaß, um sie zu halten.
Die Krise ist damit nicht individuell, sondern
architektonisch.
Diskussion – Die Architektur der funktionalen Auflösung
Die vorliegenden Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Kompetenzkrise nicht aus individuellen Defiziten entsteht, sondern aus einer systematischen Fehlkalibrierung organisationaler Aufmerksamkeit.
Drei Mechanismen verdichten sich zu einem stabilen Muster:
- Kompetenz wird nicht gesehen, sondern verbraucht. Fähigkeiten dienen als Ressource, nicht als Orientierungspunkt. Belastbare Personen werden nicht geschützt, sondern absorbiert.
- Strukturelle Unklarheit wird performativ übertönt. Der Lärm des Dringlichen ersetzt die Ruhe des Durchdachten. In einer Atmosphäre ständiger Alarmbereitschaft wirkt Nachdenken wie ein Fehler.
- Wissen ohne Speicher erzeugt permanente Wiederholung. Systeme verlernen schneller, als Menschen lernen können. Dadurch wiederholen Institutionen dieselben Fehler in regelmäßigen Abständen — jedoch mit größerer Enttäuschung.
Das zentrale Paradox:
Je mehr Kompetenz eine Organisation besitzt, desto unsichtbarer wird sie — wenn die Struktur keine Gefäße dafür vorgesehen hat.
Kompetenz löst Probleme. Problemlösung erzeugt Ruhe. Ruhe wird nicht wahrgenommen. Und was nicht wahrgenommen wird, gilt nicht als Kompetenz.
Diese Logik ist nicht bösartig. Aber sie ist wirksam. Und sie schreibt sich tiefer ein, als jede Policy, die dringend das Gegenteil behauptet.
Schlussfolgerung
Die stille Kompetenzkrise ist somit weniger ein „Krisenmoment“ als ein dauerhafter Aggregatzustand organisationaler Systeme, die gelernt haben, Aktivität zu belohnen und Klarheit zu übersehen.
Vielleicht beginnt Veränderung nicht mit einem neuen Framework, nicht mit einem Workshop, nicht mit einer Awareness-Kampagne — sondern mit einem einfachen Satz, ausgesprochen zur richtigen Zeit:
„Was du tust, ist sichtbar.“
In vielen der untersuchten Fälle zeigte sich, dass dieser Satz eine Wirkung hatte, die größer war als jede Governance-Maßnahme, größer als jede Umstrukturierung, größer als jede Task-Force.
Nicht, weil er Probleme löst. Sondern weil er
Sichtbarkeit stiftet.
Und Sichtbarkeit ist der erste Schritt, um Kompetenz nicht nur zu nutzen, sondern zu halten.
Keine Expert:innen und keine Kompetenzprofile wurden bei dieser Studie verletzt;
lediglich ein Restbestand an organisationaler Hoffnung wurde leicht angekokelt.


