
Stuhltanz im Pandämonium – Ein Akustikmassaker in fünf Akten
Ein Stück über sensorische Kapitulation in fünf Akten und einem stummen Epilog.
(Die Bühne zeigt das bereits bekannte Grossraumbüro, Modell "Legebatterie 4.0". Die 20 Tische sind eng aneinandergereiht wie Sardinen in der Dose. In den Ecken stehen ein paar traurige, von Thripsen heimgesuchte Zierpflanzen, um die ein kleiner Schwarm apathischer Trauermücken tanzt. Es riecht nach gestern aufgewärmtem Kaffee und Verzweiflung.)
Dramatis Personae:
- ANNA: Unsere Protagonistin, eine Jägerin des verlorenen Arbeitsplatzes und der Stille.
- KLAUS: Der Platzhirsch. Frühaufsteher und passionierter Müslilöffler.
- TINE: Agentin des Chaos, unbewusste Meisterin der passiv-aggressiven Umgebungsgestaltung.
- DER CHOR DER TASTATUR-BERSERKER: Eine Gruppe von Kollegen kurz vor der Deadline oder dem Nervenzusammenbruch.
- DER CHOR DER PING-KÖNIGINNEN: Zwei Kolleginnen, deren Computer unentwegt Geräusche von sich geben.
- DIE SONNEN-EIDECHSE: Eine Kollegin mit reptiloiden Wärmebedürfnissen.
- DIE SOUFFLEUSE: Unsere treue Kommentatorin des alltäglichen Grauens.
Erster Akt: Der Kampf um das Territorium
(Die Uhr an der Wand zeigt 07:01 Uhr. Die Bühne ist noch leer, bis auf ANNA, die auf Zehenspitzen hereinschleicht. Ihr Blick ist der eines Raubtiers auf der Pirsch. Ziel: der begehrte Platz links hinten in der Ecke, der letzte Rückzugsort der Vernunft.)
ANNA (hält inne, ihre Augen weiten sich vor Entsetzen. Ein Spotlight erfasst KLAUS, der bereits an ihrem Tisch sitzt. Er löffelt genüsslich sein Müsli. Das Geräusch des Löffels, der an der Keramikschale kratzt, hallt durch die Stille wie eine Kriegserklärung.)
DIE SOUFFLEUSE (flüstert ins Publikum): Akt eins im täglichen Überlebenskampf: der Stuhltanz. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Klaus hat mit dem ungeschriebenen Gesetz des frühesten Löffels sein Territorium markiert. Annas strategischer Vorteil ist dahin.
(ANNA kapituliert und setzt sich seufzend in die gegenüberliegende, ungeliebte Ecke. Kurz darauf betritt TINE die Bühne, beschwingt und ahnungslos. Mit einer einzigen, schwungvollen Bewegung fährt sie alle Jalousien am Fenster vollständig nach oben. Ein gleißender Sonnenstrahl, der wie ein Gottesurteil auf Annas Monitor fällt, verwandelt diesen in einen schwarzen Spiegel.)
ANNA (kneift die Augen zusammen und starrt auf ein Nichts aus Reflexionen.)
Zweiter Akt: Die Invasion der Körper und Aerosole
(09:00 Uhr. Die Tür wird zum Taktgeber des Grauens. Schwupps, ein Kollege. Ratsch, ein anderer. Jeder Neuankömmling bringt sein eigenes kleines Chaos mit: ein fluchen, weil ein Monitor nicht kooperiert; ein lautes Seufzen; das Geräusch einer Tasche, die auf den Tisch geknallt wird.)
(Plötzlich wird eine Flasche Desinfektionsspray wie eine Weihrauchschale herumgereicht. Das große Desinfektionsritual beginnt. Ein Kollege nach dem anderen besprüht großzügig Tisch, Tastatur und Maus. Ein hissendes PSSSSHT folgt dem nächsten.)
CHOR DER KOLLEGENSCHAFT (murmelnd): Sicher ist sicher… man weiss ja nie… Hygiene muss sein…
(Eine chemische Nebelwolke mit dem Duft von 'Zitrus-Koma’ senkt sich über die Tischreihen. ANNA, die längst kapituliert hat, zieht ihren Schal bis über die Nase und versucht, durch den Stoff zu atmen.)
DIE SOUFFLEUSE: Seht die Perversion der Fürsorge. Unter dem Vorwand der Hygiene wird der Arbeitsplatz in eine C-Waffen-Testzone verwandelt. Der Feind ist unsichtbar, die Abwehrmassnahme dafür umso penetranter.

Dritter Akt: Crescendo des Wahnsinns
(Die Bühne gleicht nun einem aufgestörten Bienenstock. Menschen wuseln rein und raus. Das stete Summen wird nun von scharfen, aggressiven Geräuschen durchbrochen.)
(Spotlight auf den CHOR DER TASTATUR-BERSERKER. Drei Kollegen hämmern mit einer Wut in ihre Tasten, als würden sie versuchen, durch die Tischplatte nach Australien zu tippen.)
SOUNDEFFEKT: KLACK-KLACK-HÄMMER-HÄMMER-TACK-TACK-TACK-HÄMMER!
(Gleichzeitig, von der anderen Seite der Bühne: DER CHOR DER PING-KÖNIGINNEN. Ihre Computer sind akustisch nicht kastriert. Jeder Slack, jede E-Mail wird mit einem fröhlichen PING! oder BLING! quittiert.)
SOUNDEFFEKT: Ping!.... Bada-BING!.... Pling!....
DIE SOUFFLEUSE: Willkommen im Pandämonium. Einem Ort, an dem jede Deadline klingt wie ein Maschinengewehrfeuer und jede Nachricht wie ein Treffer im Sensorik-Schiffeversenken. Annas Nervensystem flattert wie eine Motte im Scheinwerferlicht.

Vierter Akt: Die olfaktorische Niederlage
(Mittagspause. Ein Moment der ersehnten Stille. Die meisten Plätze sind leer. Ein Hoffnungsschimmer am Horizont. ANNA atmet tief durch… ein Fehler.)
(Ein durchdringender Geruch schleicht sich in ihre Nostrillen. Das Spotlight findet die Quelle: TINE. Sie sitzt an ihrem Platz und gabelt sich genüsslich einen großen Thunfischsalat in den Mund. Mit Zwiebeln. Und Ei.)
DIE SOUFFLEUSE: Und da ist er. Der olfaktorische Todesstoß. In einem ungeschriebenen Büro-Kriegsabkommen gilt der Verzehr von Fisch am Arbeitsplatz als Kriegsverbrechen. Tine, die diplomatische Immunität zu genießen scheint, führt gerade einen Giftgasangriff durch.
(ANNA erstarrt. Es gibt kein Entkommen. Die Luft ist gesättigt. Die Schlacht ist verloren.)
Fünfter Akt: Die Sauna-Falle
(Nachmittag. Die Sonne knallt immer noch durch die jalousienlose Fensterfront. Die Temperatur auf der Bühne erreicht fühlbare 29 Grad. Die Luft hängt, träge wie zu warm gewordener Hustensaft.)
(ANNAs Stirn glänzt. Eine einzelne Schweißperle löst sich, rollt ihr über die Schläfe und tropft mit einem leisen platsch auf die kollektiv genutzte Tastatur.)
DIE SOUFFLEUSE: Ah, die Freuden des Desk-Sharings. Heute auf dem Programm: Schwitzspuren-Roulette. Jede klebrige Taste, jeder dunkle Abdruck auf dem Stuhl ist ein intimes Souvenir eines Kollegen. Man teilt nicht nur den Schreibtisch, man teilt auch die Körperflüssigkeiten.
(Während ANNA langsam schmilzt, räkelt sich DIE SONNEN-EIDECHSE am Fensterplatz. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen und badet genüsslich in dem Sonnenstrahl, der Annas Arbeit seit dem Morgen unmöglich macht.)
Epilog: Die Flucht und das Schweigen
(Die Uhr zeigt 17:00 Uhr. Wie von einer Tarantel gestochen, katapultiert sich ANNA aus ihrem Stuhl. Sie packt ihre Tasche, als würde sie vor einem Flächenbrand fliehen.)
(Im Flur, nur wenige Meter vor der rettenden Ausgangstür, taucht TINE auf. Sie lächelt freundlich.)
TINE: Ach Anna, gut, dass ich dich noch treffe! Sag mal, wie findest du eigentlich den neuen Joghurt im Pausenraum?
(ANNA bleibt stehen. Sie dreht ihren Kopf langsam zu Tine. Ihr Blick ist leer. Eine Wüste der sensorischen Erschöpfung. Sie sagt kein Wort. Sie blinzelt nicht einmal. Sie dreht sich wortlos um und geht. TINE bleibt mit offenem Mund zurück.)
DIE SOUFFLEUSE (tritt nach vorne, während ANNA durch die Tür verschwindet): Das, meine Damen und Herren, war keine Unhöflichkeit. Das war die Kapitulation der sozialen Batterie. Wenn alle Sinne den ganzen Tag über bombardiert, belagert und besiegt wurden, gibt es keine Reserven mehr für ein Lächeln oder Smalltalk.
„Es ist die einzig verbliebene Form der Selbstverteidigung: das große, heilige Schweigen.“
(Sie blickt ins Publikum. Eine Trauermücke summt vorbei. Dann: Dunkel.)