Sichtbarkeit ≠ Transparenz: Die stille Macht des Mitlesens

Regieanweisung: Die Bühne ist ein graues Büro, aber jeder Tisch ist eine isolierte Insel unter einem eigenen, harten Spotlight. E-Mails flimmern nicht nur, sie werden als kalte, weiße Textblöcke auf die Körper der Darsteller projiziert. Die CC-Liste wird übergroß an die Rückwand der Bühne geworfen, wobei jeder neue Name mit einem leisen, unheilvollen KLICK erscheint. Die BEOBACHTERIN steht im Halbschatten, Notizblock in der Hand. Der CHOR DER MITLESENDEN sitzt nicht im Off, sondern auf einer Empore, wie Richter, die auf die Arena blicken. Sie tippen unentwegt auf lautlosen Tastaturen.

CHOR (kalt, rhythmisch): Wir sehen. Wir wissen. Wir archivieren. Wir urteilen.


Akt 1: Die Maske der Transparenz

Regieanweisung: Eine E-Mail landet. Der Projektor wirft den Text auf die Brust der BEOBACHTERIN. An der Rückwand leuchtet die CC-Liste auf. Zehn Namen. Zehn Klicks.

BEOBACHTERIN (ins Publikum): „CC. Carbon Copy. Eine harmlose technische Abkürzung. Das System nennt es Transparenz. Doch seht genau hin. Jede Kopie ist ein Scheinwerfer, der einen aus dem Schatten zerrt. Wer drinsteht, ist relevant. Wer fehlt, ist… eine offene Frage.“

Zwei Gesichter des CC:

Regieanweisung: Zwei holographische Masken erscheinen über der BEOBACHTERIN.

  • Maske des Konsenses (freundlich lächelnd): „Ich setz dich in CC, damit du Bescheid weißt.“ Die Mailflut schwillt an wie ein freundlicher Fluss. Aber der Unterton wird lauter: Lies. Reagier. Sei präsent. Verpasse nichts.
  • Maske der Kontrolle (starre Augen): „Ich setz dich in CC, damit ich weiß, dass du’s gesehen hast.“ Ein stummer Befehl, nicht zum Dialog, sondern zur Kenntnisnahme. Eine digitale Unterschrift unter einen unsichtbaren Vertrag.

CHOR: „Gehorsam… notiert. Antwortzeit… gemessen. Lesezeichen… gesetzt.“


Akt 2: Der Schreibtisch-Deal

Regieanweisung: DIE FÜHRUNGSKRAFT tritt ins Spotlight der BEOBACHTERIN. Sein Schatten fällt lang und dunkel über ihren Tisch.

FÜHRUNGSKRAFT (die Stimme süßlich, fast fürsorglich): „Mir ist aufgefallen, das Ticket über das Druckerpapier ging ohne mich raus. Hast du mich da nicht cc’t?“

BEOBACHTERIN (verwirrt): „Es war nur ein Support-Ticket. Priorität niedrig.“

FÜHRUNGSKRAFT: „Priorität ist, was ich sehe. Setz mich auf alles. Immer. CC oder BCC. Wir wollen doch alle den Überblick behalten.“ (lächelt, aber die Augen tun es nicht. Er tritt zurück in den Schatten.)

BEOBACHTERIN (ins Publikum): „Ein Deal ohne Verhandlung. Ein ‚Angebot‘, das keine Ablehnung duldet. Mein Postfach wird zu seiner Kommandozentrale. Jede harmlose Mail ein potenzieller Grenzübertritt bei einer Kollegin. Jedes ‚Nur zur Info‘ eine tickende Bombe.“

Regieanweisung: Der CHOR DER MITLESENDEN tippt synchron dreimal. Tack. Tack. Tack.

CHOR: „Du bist sichtbar. Du bist durchsuchbar. Du bist niemals allein.“


Akt 3: Die unsichtbare Eskalation

Regieanweisung: Eine neue Mail trifft die BEOBACHTERIN wie ein Pfeil. Betreff: „Falls du spontan noch Zeit hast: Freiwilliges Teamevent“. An der Rückwand flammt der Name des „Head of Unit“ in der CC-Liste blutrot auf.

BEOBACHTERIN (seufzt ins Publikum): „'Freiwillig'. 'Falls du Zeit hast'. Das Vokabular der freundlichen Erpressung. Mein Kalender ist meine private Angelegenheit. Aber der rote Name an der Wand ist eine öffentliche Anklage. Mein Nein ist jetzt nicht mehr nur eine Absage. Es ist ein Statement, das bewiesen werden muss.“

CHOR: „Ein Nein ist ein Schachzug. Eine Nicht-Antwort ist ein Wagnis. Ein Ja ist Pflicht.“

Szene: Die CC-Ketten-Katastrophe (Das Groteske)

Regieanweisung: Ein neuer Mail-Thread beginnt. Die Kaffeemaschine.

(SOUNDEFFEKT: Ein lautes, stöhnendes ÄCHZEN, als würde ein Server kollabieren.)

Der Bildschirm flimmert wild. Der E-Mail-Text wird auf alle Wände des Büros projiziert, ineinander überlappend, ein digitales Graffito des Wahnsinns.

MITARBEITERIN (Stimme per Lautsprecher, panisch): „Kann jemand die Reparatur koordinieren?“ (CC: 3 Namen)

KOLLEGE 1 (Stimme per Lautsprecher, passiv-aggressiv): „Danke der Info. Bin ja jetzt im Bild. Habe aber gerade wichtigere Themen auf dem Tisch.“ (CC: +2 Vorgesetzte) (Ein lautes KLICK-KLACK für die neuen Namen)

KOLLEGE 2 (Stimme per Lautsprecher, wichtigtuerisch): „Moment mal, warum ist der Head of Unit jetzt hier drin? Ich übernehme! Eskaliere das direkt an die Direktion zur Kenntnisnahme!“ (CC: +Direktion, +CFO) (Mehrere schnelle KLICK-KLACK-KLICK)

Regieanweisung: Jemand antwortet mit einem „👍“-Emoji an alle. Der Smiley wird riesig auf die Bühne projiziert, verzerrt und monströs. Der CHOR singt eine absurde, repetitive Litanei.

CHOR: „Mehr Mitlesen, mehr Mitwissen, mehr Mitreden, mehr Macht! Mehr Sichtbarkeit! Mehr Chaos! Mehr Kontrolle!“

SYSTEMNOTIZ (flackert auf allen Monitoren):

Generated code

[SERVER ALERT - KERNEL PANIC] Mail-Thread #734-Kaffee. 83 Antworten. 12 neue Mitleser eskaliert. Effizienz: -400%. Teamgeist: [Error 404: Not Found]. Lösung: Bitte einen neuen Thread eröffnen.

content_copydownload. Use code with caution.

BEOBACHTERIN (allein im Chaos): „CC ist kein Werkzeug. Es ist eine Hydra. Schneide einen Kopf ab, und zwei neue CC-Empfänger wachsen nach.“


Akt 4 & Finale

Regieanweisung: Der Vorhang fällt langsam. Die Lichter der Schreibtisch-Inseln erlöschen, eines nach dem anderen. Nur das Spotlight auf der BEOBACHTERIN bleibt. Sie steht im Licht, ihr Notizblock voller „Butterzonen“-Strategien.

BEOBACHTERIN (ruhig und klar zum Publikum):

„Liebes System, deine CC ist eine Bühne. Ein Spiegel. Eine Falle. Sie verspricht Gemeinschaft und sät Misstrauen.

Deshalb frage ich, bevor ich sende: Wem dient diese Kopie wirklich?

Deshalb sage ich: Sprich mich direkt an, nicht die Menge.

Deshalb dokumentiere ich: Ich cc’e, um zu arbeiten, nicht um als Alibi zu tanzen.

CC heißt nicht ‚Carbon Copy‘. Es heißt: Control by Complication.

Regieanweisung: Der CHOR DER MITLESENDEN auf der Empore steht langsam auf. Ihre Gesichter sind ausdruckslos.

CHOR: „Wir sehen. Wir wissen. Wir archivieren. Wir urteilen.“

(Ein einzelner, ohrenbetäubender PING-Ton. Auf der Leinwand erscheint die letzte Mail: „Feedback erbeten.“ Die CC-Liste darunter ist unendlich lang, scrollt endlos in die Tiefe. Das Licht auf der BEOBACHTERIN wird zu einem winzigen Punkt, bevor es erlischt.)

BEOBACHTERIN (ihr Flüstern füllt die komplette Stille des Raums): „Auch Stille kann gelesen werden. Aber meine sagt: Nein.“

(Vollkommene, bedrückende Dunkelheit. Das leise, unaufhörliche KLICK... KLICK... KLICK... neuer CC-Empfänger hallt noch einen Moment nach, bevor es abrupt endet.)