
Protokoll: Austrittsgespräch (Vertraulich)
Teilnehmende:
- Susanne K. (S.K.), Senior Data Analyst (seit 12 Jahren bei INOKORP, im Austritt)
- Leonie M. (L.M.), Feelgood & Talent Retention Managerin (seit 1.5 Jahren bei INOKORP)
Datum: [gestern]
Ort: Kreativ-Insel 3
[Setting]
Ein steriler, schalldichter Besprechungsraum namens „Kreativ-Insel 3“ – ironischerweise null kreativ. Die Wände sind mit einem abstrakten Bild dekoriert, das wie ein explodierter Farbdrucker aussieht. Ein „Synergie-Messgerät“ blinkt schwach auf dem Tisch, und ein „Agilitäts-Kristall“ (ein kitschiger Glaswürfel) steht als Dekoration daneben.
[Beginn des Protokolls]
L.M.: (lächelt breit, tippt auf ihrem Tablet) So, Susanne, herzlichsten Dank, dass du dir die Zeit nimmst. Dein Feedback ist für unsere INOKORP-Familie von unschätzbarem Wert, um unser wachstumsorientiertes Ökosystem weiter zu optimieren. Ich habe hier ein paar Standardfragen... Lass uns locker starten: Was hat dir an deiner Zeit bei INOKORP am besten gefallen?
S.K.: (lehnt sich zurück, mustert Leonie mit einem undurchdringlichen Blick) Mein Stuhl.
L.M.: (lacht unsicher) Dein... Stuhl? Ergonomie ist ein zentraler Pfeiler unserer Kultur, wunderbar! Was genau meinst du damit?
S.K.: Der, den ich bis letztes Jahr hatte. Ein ergonomischer Bürostuhl mit Lordosenstütze, den ich mir 2015 selbst ausgesucht habe. Er war wie ein treuer Gefährte – stabil, verlässlich, immer an seinem Platz. Im Gegensatz zu den Sitzsäcken, die mich letzte Woche fast verschluckt hätten.
L.M.: (tippt etwas vages ein) … „Positive Identifikation mit ergonomischer Ausstattung.“ Hervorragend. Und was war der Hauptgrund für deine Entscheidung, unsere Gemeinschaft zu verlassen? Wir waren alle tief berührt von dieser Ankündigung.
S.K.: Ich bin Synergie-Flüchtling.
L.M.: (blinzelt verwirrt) Wie bitte? Könntest du das etwas näher erläutern?
S.K.: Ich habe Asyl in einer Firma beantragt, wo „Synergie“ nicht auf glänzenden Postern prangt, sondern – falls überhaupt – in einem Meeting vorkommt, das man verlassen kann, ohne als Teamverräter zu gelten. Ich hatte eine Überdosis an dynamischer Kollaboration, visueller Konnektivität und spontanen Flashmobs. Mein Körper hat mit Abstoßungsreaktionen reagiert – Schlaflosigkeit, Zuckungen, ein ständiges Summen im Ohr wie eine Drohne.
L.M.: (runzelt die Stirn, scrollt durch ihre Liste) Ähm… bezieht sich das auf unseren „Workspace 2.0“? Wir erhalten da sehr diversifiziertes Feedback. Was könnten wir deiner Meinung nach verbessern, um transformative Resilienz zu fördern?
S.K.: Verbessern? Das ist, als würdet ihr einen brennenden Wald durch Umstellen der Bäume retten wollen. Aber gut. Nehmt die „zufälligen Begegnungen“ unter die Lupe.
L.M.: (leuchtet auf) Ja! Serendipität! Ein Kernprinzip unserer innovativen Philosophie!
S.K.: Genau. Letzte Woche hatte ich eine „serendipitäre Begegnung“ mit der Ellenbogenspitze von Kevin aus Marketing, der an meinem Desk vorbeiraste, um eine Telefonzelle zu erobern. Mein Laptop landete fast auf dem Boden, mein Puls kollaborierte mit dem Kaffeebecher – beim Überschwappen. War das die Art von „energetischer Synergie“, die ihr im Sinn hattet?
L.M.: (räuspert sich) Das… das klingt nicht optimal. Aber unsere offenen Flächen fördern doch den Austausch, oder nicht?
S.K.: Den Austausch von Krankheitserregern und ablenkenden Blicken, ja. Die produktivste Unterhaltung der letzten sechs Monate war eine non-verbale Übereinkunft mit drei Kollegen – durch panische Blicke organisiert –, wer als Nächstes die „Blabla-Kabine“ stürmt. Dabei haben wir unsere „Paranoid Parrot“-Security-Points maximiert, weil wir ständig unsere Laptops sperren mussten. Agiles Projektmanagement vom Feinsten.
L.M.: (schreibt hektisch) … „Bedarf an optimierter Raumnutzung… und klarerer Kommunikationsstruktur.“ Gut. Und wie hast du die Team-Dynamik erlebt?
S.K.: Welche Team-Dynamik? Mein Team ist jetzt eine Nomadenkarawane, die sich per Chat verabredet, um sich 15 Minuten in der überfüllten Cafeteria zu treffen – der einzige Ort mit genug Stühlen. Letzten Dienstag haben wir unsere Quartalsplanung auf eine Serviette gekritzelt, weil alle Meetingräume von Leuten besetzt waren, die nur ein ruhiges Plätzchen fürs Telefonieren suchten.
L.M.: Das nennen wir „Ad-hoc-Kreativität“! Aus der Not entstehen die besten Ideen – das ist die Essenz von Agilität!
S.K.: Es ist nicht agil, es ist eine Kollaborations-Katastrophe. Mein alter Schreibtisch war mein Habitat – ein sicherer Hafen. Jetzt bin ich Jäger und Sammler: Ich jage jeden Morgen nach einem Platz mit funktionierender Dockingstation und sammle über den Tag meine Nerven ein, die mir durch den Lärm, die Drohnen und die ständige Umsortierung geraubt werden.
L.M.: (blickt auf die Uhr) Eine letzte Frage, Susanne. Wenn du INOKORP einen einzigen Rat geben könntest, was wäre das?
S.K.: Gebt den Leuten ihre Türen zurück. Ihre Stühle. Stellt die Wände wieder auf. Hört auf, „Kultur“ auf Hochglanz-Poster zu drucken und mit Agilitäts-Kristallen zu schmücken. Kultur entsteht, wenn Menschen in Ruhe arbeiten können. Alles andere ist ein sehr, sehr teures, chaotisches Theater.
L.M.: (lächelt gezwungen) Vielen Dank, Susanne, das war… erfrischend authentisch. Wir werden dein Feedback im nächsten „Culture Circle“ mit unserem Synergie-Rat besprechen. Als Abschiedsritus überreiche ich dir den offiziellen INOKORP-„Synergie-Abschieds-Kristall“. Alles Gute auf deinem weiteren Weg – du bleibst Teil unserer Familie!
S.K.: (nimmt den Kristall, starrt ihn an, murmelt) Ein Kristall fürs Schweigen. Und ihr nennt das Kultur. (geht zur Tür) Das ist, was mir Angst macht.
[Ende des Protokolls]