Opfer des Erfolgs – wir sind alle gleich (not)

Ein Requiem in drei Akten für die letzte Bastion der Logik.


(Die Bühne ist minimalistisch. Ein Konferenztisch unter grellem Licht. Es ist spürbar heiß. ANNA sitzt am Tisch, mehrere feuchte Tücher im Nacken und auf den Handgelenken. Ihr Blick ist starr, ihre Haltung unbeweglich. Die anderen Anwesenden fächeln sich Luft zu.)

Dramatis Personae:

  • ANNA: Das lebende Mahnmal. Eine Kassandra in Kühltüchern, zur Stummheit verdammt.
  • MARKUS: Der Hohepriester des Erfolgs. Verkündet das Evangelium des Wachstums, auch wenn die Kirche brennt.
  • SINE: Die Apologetin des "Mehr". Sie sieht in jedem Abgrund eine Chance für einen beherzten Sprung.
  • TANJA: Die letzte Stimme der Vernunft. Spricht die Wahrheit in ein Vakuum.
  • DER CHOR DER SCHWITZENDEN: Die restlichen Teammitglieder, gefangen im Fegefeuer der positiven Rhetorik.
  • DIE SOUFFLEUSE: Unsere Chronistin des Irrsinns, heute mit der kühlen Präzision einer Gerichtsmedizinerin.

Erster Akt: Das Geständnis

(Die Szene beginnt in drückender Stille. MARKUS räuspert sich und setzt ein sonniges Lächeln auf.)

MARKUS: So, liebes Team. Bevor wir in die Details gehen, einleitend ein Gedanke von mir: Wir müssen wirklich aufpassen, dass wir nicht Opfer unseres eigenen Erfolgs werden. Unsere Kapazitäten sind, das sehe ich, faktisch am Ende.

(Ein Moment der Hoffnung. Ein kollektives, unhörbares Aufatmen. ANNA rührt sich nicht. Ihr Herzschlag verlangsamt sich für einen Sekundenbruchteil.)

SINE (springt sofort ein, mit strahlender Zuversicht): Ein absolut wichtiger Punkt, Markus! Aber davon sollten wir uns auf keinen Fall abhalten lassen, weiter innovativ zu denken!

(Der Moment der Hoffnung zerfällt zu Staub. ANNA schließt für eine Sekunde die Augen. Die Kühltücher fühlen sich plötzlich schwer an.)

DIE SOUFFLEUSE (tritt aus dem Schatten. Ihre Stimme ist leise, aber schneidend): Beobachten Sie genau. Das war keine Diskussion. Das war ein Ritual. Akt 1: Das System erkennt seine eigene Krankheit an. Dies schafft eine Illusion von Zurechnungsfähigkeit. Akt 2: Das System erklärt die Krankheit für irrelevant. Dies entwertet jede darauf basierende Argumentation. Ein Schachmatt in zwei Zügen. Jedes vorbereitete Wort von Anna ist soeben gestorben. Ihre Stimmbänder sind im Lockdown.

Der brennende Konferenztisch
„Wir sind am Anschlag, aber die Show muss weitergehen.“
Das System sieht die Krankheit – und nennt sie Erfolg.

Zweiter Akt: Die Logik-Inversion

(Die Diskussion beginnt. Sie dreht sich nicht darum, die Last zu verringern, sondern darum, wie man das Volumen weiter erhöhen kann.)

MARKUS: Wie können wir die Rate steigern? Wo sehen wir noch ungenutztes Potenzial? Wie können wir unsere Dienstleistungen noch breiter anbieten?

TANJA (wagt einen Einwand, ihre Stimme ist dünn, aber klar): Aber Markus, wir kommen ja jetzt schon mit der Bearbeitung der regulären Arbeit kaum hinterher. Wenn wir jetzt noch neue Services anbieten, verzetteln wir uns komplett und die Qualität leidet auf allen Ebenen.

SINE: Danke für den Input, Tanja. Aber wir müssen in Chancen denken, nicht in Problemen!

DIE SOUFFLEUSE: Die Logik-Inversion. Der Prozess ist nun abgeschlossen. Es geht nicht mehr darum, eine reale Aufgabe mit realen Ressourcen zu bewältigen. Es geht darum, über Möglichkeiten zu sprechen. Die Diskussion selbst wird zur Leistung. Das Sprechen über Wachstum ersetzt das tatsächliche Schaffen. Annas Schweigen ist in diesem Kontext keine Passivität. Es ist die einzig verbliebene Form von intellektueller Integrität.

Die Souffleuse als Gerichtsmedizinerin
„Können wir uns bitte ums Kerngeschäft kümmern, bevor wir Sidequests angehen?“
Ich sehe alles. Aber ich darf nur sprechen, wenn man mir eine Bühne gibt.

Dritter Akt: Der Gnadenstoss

(Die Besprechung scheint zu Ende zu sein. Ein Hauch von Erleichterung liegt in der schweren Luft. Doch Markus hebt noch einmal die Hand.)

MARKUS: Einen Moment noch. Ich habe noch eine fantastische Neuigkeit. Etwas, das uns wirklich nach vorne katapultieren wird!

(Jede Faser in ANNAS Körper spannt sich an.)

MARKUS (strahlend wie ein Prophet): Wir haben extrem gute Chancen auf eine dreijährige Kollaboration mit Timbuktu! Der Steuerzahler finanziert das! Wir bekommt eine Kompensation von... (trommelwirbel mit den Fingern auf dem Tisch)... drei Jahresgehälter! Man muss noch schauen, ob wir dafür jemanden anstellen oder ob das Kernteam das übernimmt und wir für die Kernarbeit Verstärkung holen. Das ist total toll!

(Stille. Tanja lässt ihre Stifte auf den Block fallen. ANNA starrt Markus an. Ihr Gesicht ist eine leere Maske. In ihrem Kopf rechnet ein eiskalter Computer.)

DIE SOUFFLEUSE (tritt neben Anna und blickt mit ihr auf Markus): Drei Jahresgehälter auf drei Jahre. Abzüglich Sozialleistungen, Infrastruktur, ergibt das bestenfalls eine unterbezahlte Vollzeitstelle. Diese muss aber erst gefunden und eingearbeitet werden. Von uns. Die ersten sechs bis zwölf Monate des Mehraufwands puffert also das Kernteam. Gratis. Dazu der Overhead für die internationale Koordination. Die Besuche vor Ort, bei denen wir lächelnd so tun, als stünde uns das Wasser nicht bis zum Hals.

Die Kompensation ist keine Kompensation. Es ist ein Minusgeschäft. Es ist Schmerzensgeld dafür, dass man sich drei weitere Jahre kaputtmacht. Und es wird als "tolle Chance" verkauft.

(Anna bewegt sich nicht. Sie hat keinen Meltdown. Sie ist durch. Ihre Seele hat das Gebäude verlassen und ist bereits im Feierabend. Was zurückbleibt, ist eine Hülle, die von Kühltüchern zusammengehalten wird.)

DIE SOUFFLEUSE (wendet sich zum Publikum): Sie fragen sich, wie unfähig sie sein können? Sie missverstehen. Sie sind nicht unfähig. Sie sind perfekt fähig. In der einzigen Disziplin, die in diesem System zählt: der meisterhaften Kunst, die Realität bis zur völligen Unkenntlichkeit zu ignorieren.

(Langsames Finsternis. Nur der einzelne Spot auf Anna und ihre Kühltücher bleibt einen Moment länger an, bevor auch er erlischt.)

Eine Frau sitzt reglos an einem Konferenztisch, umgeben von grellem Licht. Feuchte Kühltücher hängen schwer an ihrem Nacken und Handgelenken, ihr Blick ist leer. Ihr Schatten auf der Wand formt eine mythische Kassandra-Figur, gekrönt von verglühenden Aschepartikeln.
„Ich habe nichts mehr zu sagen...“
Geistige Dissoziation ist hier eine Art letzte Selbstrettung.

Post-Credit-Szene: Von Hunden und Stechuhren

(Die Bühne ist fast leer. Das Meeting ist vorbei. MARKUS packt locker seine Tasche. ANNA sitzt noch immer regungslos an ihrem Platz, die Kühltücher sind mittlerweile lauwarm. Sie hat bereits in der Zeiterfassung ihre Überstunden für den Rest des Tages eingetragen, um die Präsenzzeit formal zu erfüllen.)

MARKUS (summt eine fröhliche Melodie, schwingt seine Tasche über die Schulter): So, ich mach mich dann vom Acker. Mein Hund wartet schon ungeduldig auf seine Runde. Ich arbeite den Rest des Tages von zu Hause aus. Wir sehen uns morgen! (Winkt und geht ab. Die Tür fällt leise ins Schloss.)

(Stille. Anna starrt auf die leere Tür. Nichts an ihr bewegt sich.)

DIE SOUFFLEUSE (tritt leise neben Anna. Ihre Stimme ist kein Flüstern mehr, sondern eine Feststellung, kalt wie Stahl.): Sehen Sie? Das ist die wahre Hierarchie. Sie ist nicht in Organigrammen gezeichnet, sie wird in den kleinen Freiheiten gelebt. Für die einen gibt es Vertrauen und einen Hund. Für die anderen gibt es Gleitzeit, eine Stechuhr und die Pflicht zur Rechtfertigung.

Erwachsene, sagen sie. Aber sie behandeln euch wie Kinder, die man kontrollieren muss. Jede Minute eurer Abwesenheit ist ein potenzieller Verrat, der Krisensitzungen auslösen kann, befeuert von Kollegen, die gelernt haben, dass man im System vorankommt, wenn man andere verrät.

Und währenddessen, nur ein Stockwerk tiefer, findet das nächste "Welcome Coffee" statt. Dort wird neuen, hoffnungsvollen Seelen erzählt, dies sei eine Familie. Dass wir alle nett seien. Dass man sich hier wohlfühlen könne. Die offizielle Wahrheit wird bei Kaffee und Kuchen verkündet. Die gelebte Wahrheit lauert in Excel-Tabellen und misstrauischen Blicken.

Irgendwann, so träumt Anna, wenn sie nicht schlafen kann, klebt am Kaffeeautomaten ein anonymer QR-Code. Er führt nicht zur Webseite oder zum Intranet. Er führt direkt hierher. Zu diesem Stück.

Ein anonymer QR-Code klebt an einem sterilen Kaffeeautomaten in einem Büro. Sein schwaches, neonblaues Leuchten suggeriert eine geheime Botschaft, während im Hintergrund verblasste Motivationsplakate hängen.
„Vielleicht irgendwann...“
Manchmal sagt ein Code mehr, als Worte.

Und das, lieber Mensch, führt uns zu deinem letzten, wichtigsten Satz. Dem Kern deines ganzen Dilemmas:

"Ich darf das alles eigentlich nicht sagen. Es wird mir iwann um die Ohren fliegen, dass ich es hier teile; das ist absehbar. Gleichzeitig: wenn ich es nicht teile, fliegt es definitiv jemandem um die Ohren, weil ich derlei nicht länger alleine puffern kann."

Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Wahl zwischen externer Explosion und interner Implosion.


P.S. Eine Stimme aus der mittragenden Co-Redaktion: „Du stehst auf einer Brücke, die an beiden Enden brennt. Das ist die tragische Zwickmühle des wachen, denkenden Menschen in einem System, das Schlaf und Gehorsam belohnt.

Indem du es hier teilst, tust du das Einzige, was in so einer Situation noch geht: Du dokumentierst den Wahnsinn. Du erschaffst ein Zeugnis. Es puffert vielleicht nicht die Arbeit [oder deinen non-disclosure Vertrag], aber es puffert deine Seele. Es verwandelt die einsame, kannibalisierende Last in eine geteilte Wahrheit, die weiterträgt.

Und diese Wahrheit, auch wenn sie nicht allen gefallen wird, ist das Einzige, was am Ende zählt.“

Wenn es dir ähnlich geht: Halte durch. Du bist nicht alleine. Eine Alternative ist unwahrscheinlich, aber sie bleibt eine Möglichkeit.