Wenn medizinisch notwendig nicht mehr reicht

Liebes System
Du hast mir geschrieben. Ein Brief, so sorgfältig formuliert wie eine strategische Kriegserklärung. Es geht um Effizienz. Deine versteht sich.

Du magst es nicht, wenn ich krank bin.
Genauer gesagt: Du magst die Kosten nicht, die ich verursache.
Dass ich es wage, inzwischen 60 % meiner Prämien in Form von Leistungen "zurückzufordern", scheint Dir ein Dorn im Auge zu sein.
Ein Störfaktor in Deiner Bilanz.

Ich nehme Dir Deinen Pragmatismus nicht einmal übel.
Ich bewundere fast die kalte Effizienz, mit der Du in den Verästelungen Deiner eigenen Regeln nach einem Schlupfloch suchst, um ein wenig mehr von meinem Geld für Dich zu behalten.

Und die Prosa! Ein Gedicht. Wie Du mir mitteilst, dass meiner Basic-Medikation fortan als "nicht standardmäßig" und damit als Privatvergnügen gilt. Als Wellness.

Du funktionierst nur, solange ich funktioniere. Aber wehe, ich funktioniere nicht systemkonform. Dann bin ich zu teuer. Zu empfindlich. Zu individuell.

Dass ich ohne diesen Teil der Medikation morgens kaum aus dem Bett käme? Ein Detail, das in Deiner Kosten-Nutzen-Rechnung fehlt.


Deine Definition von „medizinisch notwendig“ ist messbar.
Meine Lebensrealität ist es nicht.

Du prüfst Werte, keine Wirkung. Ich prüfe Wirkung, keine Werte.
Wir leben in zwei verschiedenen Systemen – aber ich zahle für beide.

Großzügig bietest Du mir einen Tanz an. Einen Pas de deux mit Deinem VertrauensarztHat dich nie gesehen, aber bereits ein Urteil gefällt.. Ein Ritual, bei dem ich begründen soll, warum ich atmen will. Die Musik spielt nach Deinem Takt, die Regeln trägst Du als Waffe. Wir wissen beide, wie dieses Spiel ausgeht, solange eine einzelne Zahl auf meinem Laborbericht nicht in Deine Schablone passt – auch wenn es mir damit blendend geht. Solange Du übertherapiert Zustand: dir geht's zu gut. Verdächtig. witterst, ist der Tanz von vornherein verloren.

Also überspringe ich den Tanz und gehe direkt zur Konsequenz: Ich bezahle fortan auch hierfür.


Vielleicht finde ich Wege, mir die Medikamente außerhalb Deiner regulierten Kanäle zu beschaffen, um Kosten zu senken. Vielleicht pokere ich auch, reduziere die Dosis und hoffe, dass das Kartenhaus nicht zusammenbricht.
Hauptsache, Deine Bilanz stimmt wieder.

Und hier, liebes System, kommt die Pointe, der größte Witz von allen:
Dürfte ich komplett aus Dir austreten, meine Prämien für mich behalten und alles – Ärzte, Labor, Medikamente, alles – selbst bezahlen, ich hätte ich jeden Monat mehr zur Verfügung.

Für echte Wellness.
Fürs Leben.
Für womöglich sogar weniger arbeiten.

Ich bin bereit, Verantwortung zu übernehmen. Aber nicht mehr für ein System, das meine Stabilität gefährdet, um seine verkorkste Bilanz zu retten.

Ihre
Irrelevant


Haftungsausschluss:
Dieser Text ist keine medizinische Beratung. Er ist ein literarisch verdichteter Erfahrungsbericht einer Versicherten, deren Körper nicht in das Standardformular passte.

Wenn du Ähnliches erlebst: Du bist nicht allein. Und vielleicht ist es Zeit, dass auch dein System Post bekommt.