Koordinatenverlust

Oder: Du warst schon mal hier.


Ich lebte ein Leben, das ich nie gewählt hatte – und wachte auf mit Heimweh.

Es begann nicht mit einem Knall, sondern mit einem Flackern der Textur. Der Teppich im Flur war plötzlich zu laut, sein Muster schrie in einer Frequenz, die nur die Fußsohlen hören konnten. Die Luft im Raum schmeckte abgestanden, als hätte sie jemand Fremdes für mich vorgeatmet und sorgfältig wieder versiegelt.

Ich betrachtete meine Hände, wie sie reglos auf der Bettdecke lagen. Wessen Hände waren das? Sie kannten den PIN-Code meiner Kreditkarte, die exakte Drehung des Büroschlüssels im Schloss und das blinde Tippen auf einer Tastatur, die ich im Dunkeln finden konnte. Aber sie fühlten sich nicht wie meine an. Es waren die Hände eines Darstellers, die Geste um Geste wiederholten, während der eigentliche Besitzer irgendwo hinter der Bühne schlief.

Auf dem Weg zur Arbeit begannen die absurden Risse im Gewebe der Realität. Die Straße unter mir wurde zu einem Laufband, das mich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit an immer gleichen Fassaden vorbeizog, als wäre die Stadt nur eine gemalte Kulisse auf einer endlosen Schleife. Menschen schwebten an mir vorbei, ihre Gesichter glatt und ausdruckslos wie die Emojis, die sie sich gegenseitig schickten. Ich fragte mich, ob ihre Füße überhaupt noch den Boden berührten oder ob sie schon lange von den unsichtbaren Fäden ihrer Terminkalender getragen wurden.

Einmal, während eines Meetings, löste sich ein Wort von den Lippen meines Vorgesetzten und blieb in der Luft hängen. Das Wort war „Synergie“. Es leuchtete in einem faden Neongrün und pulsierte sanft, bevor es zu Staub zerfiel, der leise auf den Konferenztisch rieselte. Niemand sonst schien es zu bemerken. Ich fragte mich, ob der Staub nach Kreide oder Enttäuschung schmeckte.

Nachts kamen die Zukünfte zu Besuch.
Sie kamen nicht als Warnung oder als Verheißung. Sie waren einfach da, Echos aus Räumen, die ich nie betreten hatte. Manchmal roch mein Kopfkissen plötzlich nach Salz und Seetang und ich hörte das ferne Kreischen von Möwen. Einmal spürte ich die raue Rinde eines Baumes unter meinen Fingerspitzen, während meine Hand real im weichen Satin des Pyjamas lag.

Es waren keine Träume.
Es waren Geister aus möglichen Leben,
die leise an die Fensterscheibe meines Bewusstseins klopften,
um zu sehen, ob noch jemand zu Hause war.

Das Heimweh war das Seltsamste. Es war eine Leere, ein physikalischer Sog in der Mitte meiner Brust, als würde dort ein schwarzes Loch sitzen, das nicht Sterne, sondern Sinn verschlang. Wie kann man Heimweh haben, wenn man zu Hause ist? Ich saß in meinem Wohnzimmer, auf meinem Sofa, umgeben von meinen Dingen. Aber der Ort, nach dem ich mich sehnte, war auf keiner Landkarte verzeichnet. Es war kein Ort, sondern eine Koordinate in mir selbst – der verlorene Nullpunkt, an dem mein eigener Kompass noch nach meinem wahren Norden zeigte.

Eines Morgens wachte ich auf und die Decke über mir war weg.

An ihrer Stelle sah ich einen tiefblauen Himmel, kurz vor Sonnenaufgang. Unendlich. Weit. Die Luft war klar und kalt und schmeckte zum ersten Mal seit Jahren nach… nichts. Nach Möglichkeit.

Ich stand nicht auf. Ich löste mich einfach vom Bett. Schwebte langsam nach oben, durch das nicht vorhandene Dach, höher und höher, bis die Kulissenstadt unter mir klein wurde wie ein vergessener Bauplan.

Ich wusste nicht, wohin ich flog.

Aber zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich kein Heimweh mehr.
Ich war unterwegs.