
Kafka in der Warteschleife
Ein Kammerspiel in drei qualvollen Akten.
(Die Bühne zeigt eine spärlich eingerichtete Wohnung, die zugleich Büro ist. Ein Schreibtisch, ein Laptop, eine Kaffeetasse. Ein Fenster, durch das man aber nur eine graue Wand sieht. Der einzige Farbtupfer ist ein gelber Briefkasten neben der Tür. Es herrscht eine unheimliche Stille, nur unterbrochen vom leisen Summen des Laptops.)
Dramatis Personae:
- DIE BÜRGERIN: Unsere Protagonistin. Digital versiert, analog gefangen.
- SEINE HOHEIT, DAS EINSCHREIBEN: Ein eingeschriebener Brief. Nicht physisch anwesend, aber seine Aura füllt den Raum. Eine Macht. Ein Schicksal.
- DER CHOR DER DIENSTLEISTER: Repräsentiert die Post. Spricht mit der gespaltenen Zunge aus Marketing-Versprechen und Kleingedrucktem.
- DIE SOUFFLEUSE: Unsere Chronistin des alltäglichen Wahnsinns.
Erster Akt: Die Ankündigung
(Die BÜRGERIN sitzt am Laptop, tippt konzentriert. Ein Pling ertönt. Eine E-Mail-Benachrichtigung der Post poppt auf.)
BÜRGERIN (liest laut vor): "Eine eingeschriebene Sendung ist auf dem Weg zu Ihnen." (Sie zuckt mit den Schultern, öffnet eine Webseite.) "Kein Problem. Erteile ich kurz die Ablege-Genehmigung... so, hier... klick... und..."
(Ein neues Fenster poppt auf. Roter Text. Ein bedrohlicher, tiefer Brummton erklingt.)
BÜRGERIN (erstarrt, liest mit tonloser Stimme): "FEHLER. Der geschäftliche Absender dieser Sendung hat die Dienstleistung 'Zustellermächtigung' für seine Sendungen ausgeschlossen."
(Stille. Die BÜRGERIN starrt auf den Bildschirm. Langsam tritt der CHOR DER DIENSTLEISTER aus dem Halbdunkel. Sie tragen adrette Uniformen und ein aufgesetztes Lächeln.)
CHOR DER DIENSTLEISTER (im Singsang, wie in einem Werbespot): "Empfangen Sie alles bequem und sicher! Auch wenn Sie nicht zu Hause sind! Keine Unterschrift nötig! Alles easy, alles online!"
(Das Lächeln des Chors gefriert. Sie fügen im Flüsterton hinzu.)
CHOR DER DIENSTLEISTER: "...ausser der Absender zahlt uns dafür, diese Bequemlichkeit zu unterbinden. Geschäftsbedingungen gelten. Wir waschen unsere Hände in Unschuld. Einen schönen Tag noch."
(Der Chor zieht sich summend in den Schatten zurück.)
DIE SOUFFLEUSE: Und da ist er. Der Moment, in dem das 21. Jahrhundert auf eine Wand aus dem 19. trifft. Mit ihrem Daumen könnte sie ihr gesamtes Vermögen auf die Cayman-Inseln transferieren. Aber um einen Umschlag aus totem Baum entgegenzunehmen, wird sie zur Gefangenen in den eigenen vier Wänden. Das System hat sie in Geiselhaft genommen.

Zweiter Akt: Die Wache
(Die BÜRGERIN sitzt wie erstarrt an ihrem Schreibtisch. Sie hat ein wichtiges Online-Meeting. Man sieht auf ihrem Bildschirm kleine Kacheln mit sprechenden Menschen.)
STIMME AUS DEM LAPTOP: "...Anna, was meinst du dazu? Dein Input wäre hier wichtig... Anna?"
BÜRGERIN (schreckt hoch, ihr Blick huscht panisch zur Tür): Äh, ja, sorry, vollumfänglich... ich stimme dem zu. Ich... muss nur kurz was... checken.
(Sie schaltet ihr Mikrofon stumm. Sie schleicht auf Zehenspitzen zum Fenster und späht hinaus. Die Bühne wird dunkler. Ein ominöses, pulsierendes Licht beginnt, durch den Briefkastenschlitz zu dringen. Es ist die Aura von SEINER HOHEIT, DEM EINSCHREIBEN.)
DIE SOUFFLEUSE: Die Wache beginnt. Jeder Gang zur Toilette wird zum Risiko. Jedes Geräusch im Treppenhaus zur Verheissung oder Enttäuschung. Der Postbote wird zur gottgleichen Figur, die über Freiheit oder einen weiteren Tag Gefangenschaft entscheidet. Die Produktivität sinkt, der Puls steigt. Der Brief wird zum Herrscher über ihre Zeit.
(Das pulsierende Licht wird stärker. Man hört eine leise, arrogante Stimme, die aus dem Briefkasten zu kommen scheint.)
STIMME DES EINSCHREIBENS: Du wartest. Das ist gut. Ich bin nicht irgendeine E-Mail, die du ignorieren kannst. Ich bin nicht irgendeine Rechnung, die im Stapel landet. Ich bin amtlich. Ich bin wichtig. Ich bin der physische Beweis der Macht des Systems über dich. Ich verlange deine Zeit. Ich verlange deine Anwesenheit. Ich verlange deine... Unterschrift.
(Die BÜRGERIN zuckt zusammen.)

Dritter Akt: Der Vollzug (oder dessen Scheitern)
(Stunden sind vergangen. Die BÜRGERIN hat kapituliert. Sie sitzt auf dem Boden vor der Tür, als würde sie auf die Apokalypse warten. Plötzlich – ein Geräusch! Ein Schlüssel im Schloss des Briefkastens! Das metallische Klappern einer Einwurfklappe!)
BÜRGERIN (springt auf, reisst die Tür auf, ruft in den leeren Flur): HALLO?! ICH BIN DA!
(Niemand. Stille. Sie blickt verzweifelt nach unten. In ihrem Briefkasten steckt kein weisser Umschlag. Sondern ein kleiner, schäbiger, gelber Zettel.)
(Ein Spotlight erfasst den gelben Zettel. Die "Abholungseinladung".)
DIE SOUFFLEUSE: Der finale Akt der Demütigung. Er war da. Aber er hat nicht geklingelt. Oder er hat geklingelt, aber sie hat gerade geatmet. Oder der Akku der Klingel war leer. Der Grund ist irrelevant. Das Ergebnis ist alles. Die Geiselhaft im eigenen Heim ist gescheitert. Eine neue Quest wurde freigeschaltet.
(Die BÜRGERIN nimmt den gelben Zettel wie eine Todesbotschaft in die Hand.)
DIE SOUFFLEUSE: Ihre neue Aufgabe: Begib dich während der regulären Arbeitszeit zu einer unterbesetzten Postfiliale. Stelle dich in eine Schlange mit anderen Besiegten. Opfere eine weitere Stunde deines Lebens, um einen Brief in Empfang zu nehmen, der dir mitteilt, dass du ein Formular ausfüllen musst, das du nur online einreichen kannst.
(Die arrogante Stimme des EINSCHREIBENS ist nun ein leises, entferntes Kichern.)
BÜRGERIN (starrt ins Leere, der gelbe Zettel zittert in ihrer Hand.)
(Der Vorhang fällt langsam.)

Post-Epilog: Die Wiederkehr der Pflicht
(Licht flackert auf. Die Bühne ist leer. Nur der gelbe Zettel liegt noch auf dem Boden. Aus dem Off eine neue Stimme – kühl, aktenstaubtrocken.)
DAS FORMULAR (Off-Voice):
Ich habe deinen Namen notiert.
Und deine Uhrzeit.
Du wirst mich brauchen.
Früher, als du denkst.
(Ein Windhauch weht den Zettel langsam zur Seite. Darunter liegt ein neues Blatt Papier. Format A4. Oben links: 47b.)
DIE SOUFFLEUSE (flüsternd):
Und so beginnt es…
Das Theater der Bürokratie war nur der erste Akt.
(Licht aus. Ein letzter, bürokratisch klingender Piepton. Ende.)
