Ein Tag im Leben einer Resonanzkuratorin
7:15 Uhr – Das Öffnen
Mara sitzt in ihrer Küche. Der Kaffee dampft noch. Draußen ist es grau.
Sie öffnet die App.
Nicht zum Scrollen. Zum... Lauschen.
Sie ist Resonanzkuratorin.
Nicht, weil sie sich beworben hat. Sondern weil das Los sie gezogen hat.
Vor drei Monaten.
Ein Brief. Eine Einladung. Eine... Verantwortung.
„Du wurdest ausgewählt, Teil des regionalen Resonanzrats zu sein; in Team C mit 4 weiteren Personen. Für die nächsten 3–12 Monate. Du musst nicht annehmen. Aber wenn du annimmst … dann bist du Stimme. Nicht deine eigene. Sondern … die der vielen."
Sie hatte gezögert. Wegen der Verantwortung. Sie hatte das Frequenz-Synthese-Gespräch Kein Intelligenztest. Sondern: Ein Empathie- und Komplexitäts-Kompetenz-Evaluierung damals nur aus Neugier mit ihrer persönlichen Resonanz-KI durchgeführt.
Aber dann … hatte sie Ja gesagt. Sie hatte schon länger über ein Sabbatical nachgedacht, um zu reisen. Nun kann sie beides kombinieren, ohne Lohnausfall.
7:22 Uhr – Die Heatmap
Die App zeigt ihr die aktuelle Frage:
Wohnraum in BallungszentrenWie soll unsere Stadt in 10 Jahren aussehen?
Die Heatmap erscheint.
Keine Namen. Keine Gesichter.
Nur … Cluster.
Cluster A: „Gemeinwohl-orientiert"
- 67 % unterstützen Mietpreisbremsen
- 72 % unterstützen Leerstandssteuern
- 54 % sind offen für Verdichtung (mit Grünausgleich)
- 41 % bevorzugen Genossenschaften
Cluster B: „Markt-orientiert"
- 22 % lehnen Mietpreisbremsen ab
- 18 % lehnen Leerstandssteuern ab
- 34 % wollen freien Markt
- 12 % bevorzugen Privatbesitz
Cluster C: „Unentschieden / Gespalten"
- 11 % keine klare Tendenz
- Hohe Varianz zwischen Themen
Mara scrollt durch die Daten.
Sie sieht nicht nur die Zahlen. Sie sieht... Spannungen.
- Cluster A will bezahlbaren Wohnraum – aber wie?
- Cluster B fürchtet Enteignung – aber wie viel Freiheit ist tragbar?
- Cluster C… schwankt.
7:35 Uhr – Die Policy-Prototypen
Die Synthese-KI hat drei Prototypen vorgeschlagen.
Basierend auf der Heatmap.
Prototyp A: „Das Genossenschafts-Plus-Modell"
- Mietpreisbremse: 18 / m²
- Leerstandssteuer: 10 %
- Neubau mit Grünausgleich
- Unterstützung: 68 %
Prototyp B: „Das Markt-Modell mit sozialer Absicherung"
- Keine Mietpreisbremse
- Staat baut 10.000 soziale Wohnungen/Jahr
- Unterstützung: 18%
Prototyp C: „Das Verdichtungs-Modell"
- Massiver Neubau
- Grünflächen werden versiegelt
- Unterstützung: 9 %
Mara liest.
Langsam.
Ihre Finger zittern leicht auf dem Touchscreen.
Sie spürt die Prototypen.
A ist klar. 68 % Unterstützung.
Aber...
7:48 Uhr – Die Spannung
Sie scrollt zurück zur Heatmap.
Zu Cluster B.
22 % lehnen Mietpreisbremsen ab.
Mara schluckt und murmelt zu sich selbst:
"Fuck. 22%.
Das sind... wie viele Menschen? Tausende? Zehntausende?
Und ich soll ihre Angst einfach... wegkuratieren?"
Sie klickt auf „Details".
Die App zeigt:
Cluster B – Bedenken:
„Mietpreisbremsen führen zu Leerstand."
„Eigentümer:innen ziehen sich zurück."
„Der Markt sollte entscheiden."
Mara versteht das, aber sie selbst tendiert eher zu A.
Ein Gedanke huscht durch ihren Kopf:
"Warum sollte ich Rücksicht nehmen auf die 22%?
Die 68% sind doch eine klare Mehrheit!"
Und dann atmet sie und erinnert sich:
„Ich bin nicht hier, um zug ewinnen.
Ich bin hier, um zu halten."
8:02 Uhr – Die Frage
Sie öffnet das Chat-Fenster.
Nicht mit der KI. Mit den anderen Kurator:innen.
Fünf Namen. Anonymisiert.
Mara: „Wir haben 68 % für Prototyp A. Aber 22 % sind fundamental dagegen. Wie halten wir die Spannung?"
Eine Antwort kommt:
Kurator:in 3: „Vielleicht einen Kompromiss? Mietpreisbremse nur in bestimmten Quartieren?"
Eine andere:
Kurator:in 5: „Oder: Leerstandssteuer nur für Wohnungen über 200 m²? Das trifft Spekulant:innen, aber nicht kleine Eigentümer:innen."
Mara erkennt den Schreibstil von Kurator:in 3.
Sie spürt, dass Kurator:in 5 oft die radikaleren Vorschläge macht.
Sie blickt aus dem Fenster und fragt sich:
"Wer ist Kurator:in 3 eigentlich? Ist sie jung? Alt? Aus welchem Quartier?
Und warum will ich das wissen – sollte es überhaupt eine Rolle spielen?"
Und dann merkt sie:
Die Anonymität ist nicht nur Schutz.
Sie ist auch... Askese.
Ein bewusster Verzicht auf Identifikation.
Um dem Argument zu lauschen, nicht der Person.
Mara denkt nach.
Ihr Atem wird langsamer.
Sie schließt für einen Moment die Augen.
Zählt bis fünf.
Ja.
Die Kombination könnte... tragen.
8:15 Uhr – Die Iteration
Sie öffnet den Prototyp-Editor.
Sie passt Prototyp A an:
Prototyp A.1: „Das Genossenschafts-Modell mit Ausnahmen"
- Mietpreisbremse: 18 / m² nur in Quartieren mit hohem Mietdruck
- Leerstandssteuer: 10 % nur für Wohnungen über 200 m²
- Neubau mit Grünausgleich
- Geschätzte Unterstützung: 74 %
Die KI berechnet:
„Prototyp A.1 würde die Unterstützung von Cluster B um 8 % erhöhen. Gleichzeitig bleibt die Unterstützung von Cluster A stabil."
Mara lächelt.
Nicht triumphierend.
Sondern … still.
Sie hat nicht ihre Meinung durchgesetzt.
Sie hat … Raum gehalten.
Für beide Cluster.
8:30 Uhr – Die Entscheidung
Sie sendet Prototyp A.1 an die anderen Kurator:innen.
Vier stimmen zu. Einer schlägt eine weitere Anpassung vor.
Sie diskutieren. Sie justieren.
Am Ende:
Prototyp A.2 entsteht.
Mit:
- Mietpreisbremse in definierten Quartieren
- Leerstandssteuer ab 150 m² (Kompromiss)
- Grünausgleich verpflichtend
- Geschätzte Unterstützung: 76 %
Sie reichen ihn ein.
Team A und B, die sich heute mit anderen Themen befasst haben, bekommen einen Ping mit der ausgearbeiteten Empfehlung und Begründung.
Nur wenn mind. 70 % von ihnen zustimmen, trifft der Vorschlag in Kraft.
Ansonsten wird er zurückgespielt zu Team C.
8:45 Uhr – Die Reflexion
Mara schließt die App.
Der Kaffee ist kalt geworden.
Sie steht auf. Geht ans Fenster.
Draußen beginnt es zu regnen.
Mara denkt:
„Der Regen fällt. Ohne zu fragen, wen er trifft. Ohne zu wissen, ob er erwünscht ist.
So ist Demokratie. Sie fällt. Sie trifft alle. Manche wollen sie. Manche nicht.
Aber sie fällt trotzdem. Weil sie muss. Weil wir... gemeinsam atmen müssen."
Sie atmet aus.
Nicht erleichtert.
Sondern … müde.
Sie hat drei Stunden lang Spannungen gehalten.
Sie hat zwischen Clustern übersetzt.
Sie hat einen Prototyp erschaffen, der 76% trägt.
Und jetzt... jetzt spürt sie die Last.
Die Last, für andere zu denken.
Das Wissen, dass es trotzdem nicht alle glücklich machen wird.
Eine Last, die kein Mensch alleine tragen sollte.
Und deshalb gibt es die anderen Kurator:innen.
Deshalb sind es fünf, nicht eine
Deshalb ist es temporär, nicht lebenslang.
Aber trotzdem:
In diesem Moment ist Mara... erschöpft.
Das ist ihr Job.
Nicht, perfekte Lösungen zu finden.
Sondern … Spannungen zu halten.
Solange, bis etwas entsteht, das … trägt.
Eine Woche später
Mara ist neugierig.
Sie öffnet die Feedback-Funktion in der App.
Wo sie sieht, was Menschen aus Cluster B schreiben,
nachdem A.2 veröffentlicht wurde.
Manche sagen: "Okay, das ist ein fairer Kompromiss."
Andere sagen: "Immer noch zu viel Regulierung. Aber ich verstehe die Logik."
Und ein paar sagen: "Das ist Enteignung durch die Hintertür."
Und Mara muss lernen:
Sie kann nicht alle erreichen.
Aber sie kann... transparent sein.
Sie kann zeigen:
"So haben wir gedacht. So haben wir abgewogen.
Hier sind die Spannungen, die wir gesehen haben."
Und sie weiß: Es gibt den 3-Monats-Check.
Kurze Befragung (via App, via analoge Hubs): "Wie fühlt sich die neue Policy an? Was quält dich?"
Und den 1-Jahres-Follow-up: Tiefere Analyse. Nicht nur: "Was ist schlecht?" Sondern auch: "Was haben wir übersehen? Was haben wir unterschätzt?"
Diese Erkenntnisse fließen zurück in die Heatmap. Sie sind nicht Fehler. Sie sind... Lernen.
Selbst wenn sie daneben lag – das System atmet mit. Es fängt auf. Auch nachdem sie längst nicht mehr da ist.

