
Die PowerPoint-Pantomime
Ein Ritual in leerer Sprechblase, mit anschließender Fragerunde.
(Die Bühne ist ein steriler Meetingraum. In der Mitte steht ein Tisch mit unbequemen Stühlen. An der Seite: eine Kaffeemaschine und ein Tablett mit traurig aussehenden Keksen. Ein Beamer wirft ein unruhiges, bläuliches Licht an die Wand. Der Lüfter des Beamers ist das einzige Geräusch.)
Dramatis Personae:
- ANNA: Unsere Heldin des Alltags, bewaffnet mit Kaffee und einem Keks.
- KLAUS: Der Folienschubser. Ein Mann, der mit seinem Laserpointer eins geworden ist.
- MINKA: Klaus' Katze. Die unsichtbare Co-Moderatorin und heimliche Protagonistin.
- BEATE, die Wissbegierige: Eine Kollegin, die jede Präsentation persönlich nimmt.
- DER CHOR DER ZUHÖRER: Eine Gruppe von Kollegen in verschiedenen Stadien des Wachkomas.
- DIE SOUFFLEUSE: Unsere Chronistin des Absurden.
Erster Akt: Der Lockruf des Kekses
(ANNA betritt die Bühne. Sie schielt zur Uhr, dann zum Kekstablett. Ein kurzer, innerer Kampf. Der Keks gewinnt. Sie schnappt sich eine Tasse Kaffee und ein Gebäck und lässt sich auf einen der Stühle fallen.)
ANNA (murmelt ins Publikum): Mittag. Die geheiligte Stunde, in der man sich entscheiden muss: echte Pause oder "freiwillige" Weiterbildung? Eine Stunde bezahlt werden, um zuzuhören... das klingt fair. Und es gibt Kekse. Wahrscheinlich habe ich sie schon verdient.
(Der CHOR DER ZUHÖRER tröpfelt herein. Alle folgen dem gleichen Ritual: Kaffee holen, Keks nehmen, Platz suchen, Handy dezent unter dem Tisch positionieren. Ein stummes Ballett der Arbeitsvermeidung.)
DIE SOUFFLEUSE (flüstert): Der Keks ist der Köder. Die Anwesenheit ist die Beute. Der Inhalt... ist Kollateralschaden. Man sammelt soziale Credits, zeigt Engagement und vermeidet die 17 ungelesenen E-Mails, die am Arbeitsplatz lauern. Ein brillanter Handel.
(KLAUS tritt nach vorne. Er trägt ein leicht zu enges Hemd und hält einen Folienklicker wie ein Zepter. ANNA erstarrt mit dem Keks auf halbem Weg zum Mund.)
ANNA (stöhnt leise): Oh, verdammt. Ich hätte in den Kalender schauen sollen. Es ist Klaus-Tag.

Zweiter Akt: Der Marathon des Klickens
(Das Licht im Raum wird gedimmt. Der Beamer erwacht zum Leben. Die erste Folie erscheint: ein unscharfes Katzenfoto. Darunter in Comic Sans: "Seid ihr bereit für eine 'pfotastische' Präsentation?")
KLAUS (strahlt ins verhalten klatschende Publikum): Hallo zusammen! Wie ihr seht, hat meine Minka mich wieder inspiriert...
(ANNA schließt für einen Moment die Augen. Klaus beginnt seinen Monolog. Die Leinwand wird zur Bühne seines Egos. Er klickt sich stoisch durch seine Folien. Jedes KLICK ist wie ein Peitschenhieb für die Aufmerksamkeit des Publikums.)
(Auf die Leinwand werden Folien projiziert:)
- Folie 7: Ein Organigramm, so komplex wie der Stammbaum der Habsburger. Pfeile führen ins Nichts.
- Folie 12: Eine Tag-Cloud mit den Worten: SYNERGIE | PROAKTIV | LEVERAGE | LOW-HANGING FRUITS | MINDSET
Zwischenruf von ANNA „Ich glaube, 'Synergie' hat gerade meinen Keks beleidigt.“
- Folie 23: Ein Stockfoto von Menschen, die lachend auf einen Laptop schauen.
DIE SOUFFLEUSE kann sich nicht zurückhalten: „Das Stockfoto auf Folie 23 stammt aus einer anderen Welt – einer, in der Menschen ohne Ironie auf Laptops schauen.“
- Folie 38: Ein weiteres Foto von Minka, diesmal schlafend auf einer Tastatur mit der Bildunterschrift: "Unsere eigentliche Chefin bei der Arbeit."
Nun dreht auch der Laserpointer durch: „Klaus ist nicht der Moderator. Er ist der Dirigent seines eigenen Echos.“
(Der CHOR DER ZUHÖRER beginnt, sich subtil zu bewegen. Einer nickt rhythmisch ein. Eine andere scrollt unbemerkt durch Instagram. ANNA starrt auf einen Punkt an der Wand und versucht, durch reine Willenskraft die Atome des Raumes zu spalten.)
DIE SOUFFLEUSE: Beobachten Sie die Technik. Klaus präsentiert nicht, er rezitiert. Er hält eine Messe für sich selbst. Die Folien sind keine Informationsvermittler, sie sind Meilensteine auf seinem Weg zur Selbstzufriedenheit. Niemand hat nach 45 Minuten eine Ahnung, was er eigentlich tut. Aber Klaus… Klaus fühlt sich gehört.

Dritter Akt: Das unerwünschte Nachspiel
(KLICK. Die letzte Folie erscheint: "Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Fragen?")
(Ein kollektives, unterdrücktes Aufatmen geht durch den CHOR. Man rückt die Stühle zurecht, bereit zur Flucht.)
ANNA (denkt laut): Geschafft. Kaffee war okay, Keks war trocken. Ein fairer Tausch. Zeit, zu den 17 Mails zurückzukehren.
(Doch da hebt BEATE, die Wissbegierige, langsam die Hand. Ein Raunen geht durch die Menge.)
BEATE: Klaus, vielen Dank für den spannenden Einblick! Ich hätte da nur eine kleine Frage zu Folie 27. Der dunkelblaue Pfeil, der vom Q3-KPI-Cluster zur Synergie-Cloud führt... repräsentiert der eine downstream-Integration der Legacy-API oder ist das eher ein metaphorischer Vektor für zukünftige Stakeholder-Kommunikation?
(Klaus' Augen beginnen zu leuchten. Dies ist der Moment, auf den er gewartet hat.)
KLAUS: Beate! Hervorragende Frage! Das ist ein absolut zentraler Punkt. Lassen Sie mich kurz ausholen...
(Klaus holt aus. Er holt so weit aus, dass er fast in der Steinzeit der Firma ankommt. Der CHOR sinkt in sich zusammen. ANNA starrt Beate mit einer Mischung aus Hass und ungläubigem Respekt an.)
DIE SOUFFLEUSE: Die Eine. In jedem Publikum gibt es die Eine. Jemand, der wirklich zugehört hat. Oder zumindest so tut. Für sie ist die Fragerunde kein Ende, es ist der Beginn ihrer eigenen Performance. Für alle anderen ist es die Verlängerung der Geiselnahme.
ANNA (spricht verzweifelt zum Publikum): Wäre ich doch bloß an meinem Platz geblieben… Ich hätte schon neun der 17 Mails beantworten können. Ich hätte vorgeben können zu arbeiten, statt hier vorzugeben, zuzuhören. Was ist nur falsch mit mir?

Schlussbild
(Beate stellt ihre dritte Nachfrage. Klaus gestikuliert wild. Die Blicke des CHORES sind leer. Der Beamer an der Wand beginnt zu flackern. Anstelle der letzten Folie erscheint ein animiertes GIF von klatschenden Händen. Doch die Animation ist fehlerhaft. Der Ladekreis in der Mitte dreht sich endlos. Das Bild friert ein, kurz bevor die Hände sich berühren.)
(Stille. Nur der heulende Lüfter des Beamers.)
(Der Vorhang fällt langsam auf die eingefrorene Szene der kollektiven Agonie.)
ANNA (trocken): Selbst die Hände wollen hier nicht mehr klatschen.
