Die Palme der Dankbarkeit

Ein absurdes Stück über erzwungene Wertschätzung in vier Akten und einem Epilog.


(Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf eine Bühne, die ein Grossraumbüro darstellt. Typ „Legebatterie 4.0“. Das Licht ist grell und unbarmherzig, das Summen der Computer eine stete, monotone Geräuschkulisse. In der Ecke kauert eine einsame Kaffeemaschine.)

Dramatis Personae:

  • ANNA : Unsere Protagonistin. Möchte einfach nur ihren Job machen.
  • SUSANNE: Die Initiatorin der Freude. Eine Vorgesetzte mit einer Mission.
  • TINE: Die Beschenkte (und bald Gegangene). Hauptsächlich abwesend.
  • PALMINA: Eine stattliche Kentia-Palme. Stummer Star und Symbol des kollektiven Drucks.
  • DIE SOUFFLEUSE: Flüstert die ungeschriebenen Gesetze und wahren Gedanken ins Publikum.
  • DER CHOR DER KOLLEGENSCHAFT: Eine amorphe Masse aus nickenden und zahlenden Mitarbeitenden.

Erster Akt: Der erste Nudge

(Die Szene ist ruhig. Menschen tippen. Plötzlich schwebt SUSANNE, die Initiatorin der Freude, an ihren Platz. Sie strahlt eine Aura manischer Tatkraft aus. Ein Geräusch ertönt: PLING! Eine E-Mail trifft auf allen Bildschirmen ein.)

ANNA (blickt auf den Bildschirm. Ihre Augen verengen sich.)

(An die Bühnenwand wird der Text der E-Maily projiziert:)

Betreff: Tines Abschiedsgeschenk 🥰

Hallo liebes Team,

wie ihr wisst, verlässt uns unsere liebe Tine. Um unsere Wertschätzung zu zeigen, habe ich etwas Schönes für sie gekauft: eine prächtige Palme für ihr neues Zuhause! Sie steht schon bei mir und wartet auf ihren grossen Auftritt.

(Darunter erscheinen 10 hochauflösende Fotos von PALMINA aus verschiedenen Winkeln, fast wie ein professionelles Pflanzen-Shooting.)

Damit wir die Kosten gemeinsam tragen, bitte ich um einen Beitrag von 10 € pro Person. Gerne per TWINT/PayPal an [Susannes Nummer] oder bar, wenn ihr zum Abschiedsapéro kommt.

Lasst uns Tine einen unvergesslichen Abschied bereiten!

LG, Susanne 😇

DIE SOUFFLEUSE (flüstert verschwörerisch ins Publikum): Man beachte die psychologische Finesse. Ein vollendeter Kauf, der ein „Nein“ fast unmöglich macht. Das ist keine Frage mehr, es ist eine Rechnung. Die sozialen Kosten, elegant auf die Belegschaft abgewälzt. Wertschätzung als Eintrittspreis.

(ANNA , unsere Protagonistin bewegt den Mauszeiger mit stoischer Ruhe über die Mail. Ein Klick. Ein leises, befriedigendes WUSCH-Geräusch, als die Nachricht im digitalen Papierkorb verschwindet. Sie geniesst ihren Feierabend, ohne Apéro.)


Zweiter Akt: Das Nudging wird maximiert

(Zwei Tage später. Die Stimmung im Büro ist… palmig. SUSANNE, im Schlepptau den CHOR DER KOLLEGENSCHAFT, schiebt PALMINA, die Palme, auf einem quietschenden Bürostuhl durch die Gänge. Die Palme wird kollektiv gefeiert wie eine Trophäe.)

CHOR DER KOLLEGENSCHAFT (murmelnd im Kanon): „Toll, Susanne!“ … „Was für eine Geste!“ … „Wert-schät-zung!“ … „Ist die nicht herrlich?“

SUSANNE (strahlend, als hätte sie den Weltfrieden gestiftet): Seht nur, wie sie das Raumklima verbessert! Tine wird begeistert sein! Das sind wir ihr schuldig!

PALMINA bekommt ein Schild umgehängt: Ich bin deine Schuldgefühls-Pflanze. 🌿

DIE SOUFFLEUSE (flüstert): Der mobile Altar der Gruppendynamik. Ein Spektakel, dem sich niemand entziehen kann. Wer jetzt nicht andächtig nickt, hasst nicht nur Palmen, sondern auch Tine, die Firma und wahrscheinlich auch kleine Kätzchen. Die soziale Kontrolle ist nun visuell. Du kannst sie nicht mehr ignorieren.

(ANNA setzt ihre Noise-Cancelling-Kopfhörer auf und tippt mit übertriebener Konzentration in ihre Tastatur. Ihr Blick bleibt starr auf den Monitor gerichtet.)


Dritter Akt: Der Flurtest

(Die Tage danach. Das Büro ist zum Minenfeld geworden. Jeder Gang zur Toilette oder Kaffeemaschine ist ein potenzieller Hinterhalt.)

(ANNA späht um die Ecke ihres Arbeitsplatzes. Die Luft ist rein. Sie huscht Richtung Kaffeemaschine. Plötzlich erstarrt sie. Aus dem Augenwinkel hat sie SUSANNE erspäht, die wie eine Jägerin hinter einem Ficus Lyrata lauert.)

(Spotlicht auf eine Toilettenkabine. Ein Kollege tritt heraus, wäscht sich die Hände. Aus dem Nichts erscheint SUSANNE neben ihm.)

SUSANNE (mit einem charmant-nachbohrenden Lächeln): Hey, hattest du schon Gelegenheit zu überweisen? Kein Stress, nur dass ich’s verbuche… 😌

(Das Licht erlischt. Wieder Fokus auf ANNA. Sie hat den Kalender von SUSANNE abonniert. Ihre Bürotage folgen dem Kalender der Initiatorin. Der Gang über den Flur wird vermieden, die Feuertreppe ist ihr neuer bester Freund geworden.)

DIE SOUFFLEUSE: Seht sie euch an. Eine Rebellin im Stillen. Sie weigert sich nicht laut, sie entzieht sich. Ihre Währung ist nicht Geld, sondern die Vermeidung des Systems. Ein teuer erkaufter Frieden durch logistischen Aufwand.


Vierter Akt: Der finale Abschied

(Tines letzter Arbeitstag. ANNA hat es fast geschafft. Die Feuertreppe hat gute Dienste geleistet. Doch im Schicksalsmoment des Abschieds kommt es zur unvermeidlichen Konfrontation im Flur.)

ANNA (läuft Tine direkt in die Arme): Hey Tine, alles Gute für deine nächste Etappe! Hau rein!

TINE: Danke dir! Mach's gut!

(Tine geht ab. ANNA atmet auf und will sich zu ihrem Platz zurückziehen. Da springt SUSANNE hinter einer tragenden Säule hervor. Ein triumphales Lächeln auf den Lippen.)

SUSANNE: ERWISCHT!

(Stille. Ein einzelner Scheinwerfer nur auf die beiden.)

SUSANNE: **Du hast dich von ihr verabschiedet. Das habe ich ganz genau gesehen. Also beteiligst du dich jetzt gefälligst an dieser verdammten Palme, du… du… Gratismitmensch!

(ANNA sieht Susanne an. Sie blinzelt nicht. Sie sagt nichts. Die Stille ist lauter als jedes Wort. Langsam, fast feierlich, dreht sie sich um und geht zu ihrem Platz zurück.)


Epilog

(Die Szene erstarrt im Halbdunkel. DIE SOUFFLEUSE tritt nach vorne ins Scheinwerferlicht und wendet sich direkt ans Publikum.)

DIE SOUFFLEUSE: Es ging nie um die zehn Euro. Es ging darum, konsequent aus einem Spiel auszusteigen, dessen Regeln man nicht akzeptiert. Es ging darum, sich der emotionalen Erpressung unter dem Deckmantel der „Wertschätzung“ nicht zu beugen. Denn mit welcher Begründung hier beitragen, wenn man sich bei allen anderen Geschenkritualen seit Jahren erfolgreich zurückhält? Tine war keine Ausnahme. Warum also sollte Anna eine machen?

Und unsere Protagonistin… die will verdammt nochmal einfach nur ihren Job machen.

(Der Vorhang fällt langsam.)

(Im Abspann läuft leise, seelenlose Fahrstuhlmusik.)