
Die Hierarchie-Falle™ oder: Der Tod einer guten Idee
Ein Trauerspiel in drei Akten über den langen, sinnlosen Weg der Proaktivität.
(Die Bühne zeigt einen bescheidenen, aber ordentlichen Büroraum. ANNA und ihr Vorgesetzter THOMAS sitzen an einem Tisch. Auf dem Laptop vor ihnen ist der Entwurf einer E-Mail zu sehen. Die Atmosphäre ist produktiv, fast hoffnungsvoll.)
Dramatis Personae:
- ANNA: Die Denkerin und Macherin. Hat eine gute, umsetzbare Idee.
- THOMAS: Der Teamleiter. Ein wohlmeinender Leutnant. Begeisterungsfähig, aber mit einem Rückgrat aus gekochten Spaghetti.
- DER BIGBOSS: Die Spitze der Pyramide. Eine gottgleiche Figur, die nur als Echo von fern existiert.
- DIE IDEE: Ein kleines, perfekt geöltes Uhrwerk aus einem Plan, einem Mail-Entwurf und motivierten Studierenden.
- DIE SOUFFLEUSE: Unsere unbarmherzige System-Pathologin.
Erster Akt: Das zarte Pflänzchen der Proaktivität
(Anna und Thomas blicken zufrieden auf den Laptop. Ihre Arbeit ist getan.
ANNA: Also, der Mail-Entwurf steht. Die Zielgruppe ist definiert. Die Studis sind gebrieft und übernehmen die gesamte Nachverfolgung. Minimaler Aufwand für uns, maximaler Soft-Ping. Ein einfacher Weg, um unsere Datenbank am Leben zu halten und im Gespräch zu bleiben.
THOMAS (nickt begeistert, ein Leuchten in den Augen): Anna, das ist brillant. Einfach, effizient und strategisch klug. Ein perfektes Beispiel dafür, wie wir proaktiv arbeiten können, ohne unsere Kernressourcen zu belasten. Ich bin begeistert!
(In diesem Moment schwebt DIE IDEE als leuchtendes, filigranes Uhrwerk über dem Tisch. Sie tickt leise und harmonisch.)
THOMAS (steht auf, voller Tatendrang): Ich nehme das mit ins Meeting mit dem BigBoss. Der wird genauso begeistert sein wie ich!
DIE SOUFFLEUSE (tritt ins Halbdunkel, blickt auf das leuchtende Uhrwerk): Seht es euch an. Ein zartes Pflänzchen der Proaktivität, gewachsen auf dem kargen Boden des Alltagsgeschäfts. Entstanden aus Logik und Eigeninitiative. Nun beginnt seine gefährliche Reise nach oben, durch die sauerstoffarmen Schichten des Managements.

Zweiter Akt: Die Audienz auf dem Olymp
(Die Bühne ist leer. Man hört nur das entfernte, gedämpfte Murmeln von Stimmen hinter einer verschlossenen Tür. Plötzlich ein Geräusch, als würde ein Funke erlöschen. Das leuchtende Uhrwerk, das zuvor über der Bühne schwebte, fällt mit einem leisen KLIRREN zu Boden und zerbricht in tausend Stücke. Stille.)
DIE SOUFFLEUSE: In den Hallen der Macht werden Entscheidungen nicht auf Basis von Daten oder ausgearbeiteten Plänen getroffen. Sie werden aus dem Bauch, aus einer Laune, aus der Erinnerung an ein lange vergessenes Strategie-Meeting gefällt. Die Begeisterung des Leutnants trifft auf die allumfassende Gleichgültigkeit des Generals. Das zarte Pflänzchen wird nicht behutsam gestutzt. Es wird mit dem Stiefel zertreten.

Dritter Akt: Das Begräbnis der Motivation
(Thomas kehrt zurück in den Raum. Sein Leuchten ist erloschen. Die Schultern hängen, er meidet Annas Blick. Er lässt sich schwer auf seinen Stuhl fallen.)
ANNA (wartet, ahnt schon alles): Und?
THOMAS (räuspert sich, blickt auf seine Hände): Ja, also... wir haben darüber gesprochen. Es war... eine konstruktive Diskussion. Der BigBoss sieht das... aus einer strategischen Perspektive.
ANNA: Was hat er gesagt?
THOMAS (murmelt, zitiert widerwillig): „Würde eh nix bringen. Das nutzt ja niemand.“ (Fügt schnell hinzu, um die Aussage zu entschärfen): Er meint, wir sollen uns auf die Kernmission konzentrieren. Du weißt schon... die grosse Linie.
ANNA (sagt nichts. Sie bewegt nur den Mauszeiger und schließt langsam, fast feierlich, das Fenster mit dem fertigen E-Mail-Entwurf. Das Klicken ist das Geräusch eines Sargnagels.)
DIE SOUFFLEUSE (tritt nach vorne, blickt direkt ins Publikum): Und hier stirbt sie. Die Motivation. Nicht mit einem lauten Knall, sondern mit einem leisen Mausklick.
Was ist hier wirklich passiert? Der BigBoss hat nicht nur eine Idee abgelehnt. Er hat eine Botschaft gesendet: "Eure Initiative ist wertlos. Euer Mitdenken ist unerwünscht. Wartet auf Befehle."
Und der Leutnant? Der treue, Hierarchie-gläubige Leutnant? Er hat nicht auf den Tisch gehauen. Er hat als pflichtbewusster Sicherungskasten die Überspannung von oben nach unten weitergeleitet und ist dabei selbst durchgebrannt. Seine Aufgabe ist nicht, sein Team zu schützen, sondern die Launen des BigBoss abzufedern und zu legitimieren.
Dies, meine Damen und Herren, ist kein Management. Dies ist pures Gift. Es lehrt jeden Einzelnen eine simple Lektion: Der sicherste Weg, unbeschadet durch den Tag zu kommen, ist, absolut nichts zu tun, was nicht explizit befohlen wurde.
Herzlich willkommen in der Hierarchie-Falle.
(Der Vorhang fällt auf eine schweigende Anna und einen beschämten Thomas, die auf die Scherben einer guten Idee am Boden starren. Und irgendwo, ganz leise, speichert jemand den Entwurf unter ‘vielleicht.später.eml’.)
