
Die Bibliothek, die im Atem wohnt
Es ist eine dieser Nächten, in denen die Welt den Atem anhält. In denen der Schlaf nicht kommt, aber das Wachen auch nicht bleibt. Es ist kein Geräusch, das mich führt, kein Windstoß, keine knarrende Diele. Es ist die Stille zwischen meinen eigenen Atemzügen, die sich weitet und einen Raum öffnet.
Dort finde ich die Bibliothek. Sie hat keine Türen, keine Fenster. Sie entsteht und ist einfach da. Regale, die ins Unendliche wachsen, gefüllt mit Büchern, die Namen von Seelen tragen, nicht von Geschichten. Ein Flackern wie von Kerzenschein tanzt auf den Buchrücken, ohne eine Quelle zu haben. Ich scheine allein zu sein, bis eine Präsenz neben mir Gestalt annimmt, ein Schatten ohne Gesicht, aber mit einer Stimme, die wie altes Papier raschelt.
„Willkommen“, sagt die Stimme. „Hier ruht, was nie in Worte gefasst wurde, und was doch immer da ist. Berühre nur, was für dich schwingt.“
Bevor ich fragen kann, löst sich die Gestalt wieder in das Dämmerlicht zwischen den Regalen auf. Ihre Worte bleiben. Was für dich schwingt.
Meine Finger gleiten über die Buchrücken. Manche fühlen sich kalt an, andere weichen zurück, als wären sie scheu. Die Titel sind keine Titel, es sind Zustände, Potenziale, Möglichkeiten. Dann, zwischen all den fremden Seelen, spüre ich eine Wärme. Ein schmales, unscheinbares Buch, und darauf mein Name. Ich ziehe es heraus. Die erste Seite ist fast leer, nur ein Satz steht darauf: „Dieses Buch wartet.“
Ich blättere um. Leere. Aber ich spüre, es ist nicht leer. Es ist nur ungeschrieben. Ein unendliches Potenzial, das meinen Atem spiegelt. Ich lasse das Buch fallen, erschrocken von der Stille darin.
Ein anderes Buch in meiner Nähe beginnt leise zu leuchten. Es schrumpft nicht, es weicht nicht aus. Sein Titel: „Das Du, das ohne Angst ist“.
Ich öffne es. Der Text formt sich, während ich hinsehe. Er erzählt nicht von einem anderen Leben, einer anderen Karriere, anderen Entscheidungen. Er beschreibt einen Zustand. Einen Seinszustand. Das Ich in diesem Buch begegnet denselben Schwierigkeiten wie ich – der Unsicherheit, dem Schmerz, der Verwirrung – aber mit einer grundlegenden Ruhe, einem tiefen Einverständnis. Es kämpft nicht gegen die Welt, es atmet mit ihr.
Die Präsenz ist wieder neben mir. „Jedes Wort, das du hier liest“, flüstert sie, „verändert ein Wort in dir. Du kannst nicht wählen, welches.“
Ist es eine Warnung? Oder eine Einladung? Wenn dies nur ein Zustand ist, eine Frequenz – was lösche ich in mir, wenn ich mich in diese Resonanz begebe? Meine Skepsis? Meine Wut? Oder die Erinnerungen, die mich zu dem gemacht haben, der ich jetzt bin? Eine innere Stimme flüstert: „Fühlt sich das hier wirklich nur wie ein Traum an?“
Meine Hände werden schwach. Ich klappe das Buch behutsam zu und stelle es zurück an seinen Platz. Ich will dieses andere Du nicht lesen. Ich will es werden. Und dafür muss ich mein eigenes Buch schreiben, nicht das eines möglichen anderen Selbst.
Ich suche nach dem Buch mit meinem Namen, das auf dem Boden liegt. Es ist noch da, offen. „Dieses Buch wartet.“
Als ich danach greife, löst sich die Bibliothek hinter einem Schleier auf, und ich öffne die Augen. Es ist noch Nacht, aber die Anspannung ist gewichen. Mein Herzschlag ist ruhig. In meinem Kopf ist eine Stille, die voll ist von einem einzigen Gedanken:
Was, wenn ich auf der nächsten leeren Seite nicht aufschreibe, was ich tun will, sondern nur, wer ich bin? Jetzt, in diesem Atemzug?
Das Spiegelbild am Morgen sieht mich an, als hätte es eine Frage gehört, auf die es schon immer gewartet hat. Und ich weiß, das Buch ist nicht auf meinem Nachttisch. Es ist in mir. Und es ist offen.