
Die Begeisterungsfalle – wer schweigt gewinnt
Ein Stück über die systemische Ausbeutung von Initiative in zwei Akten.
(Die Bühne zeigt das Team-Meeting eines chronisch überlasteten Teams. Die Gesichter des CHORS DER KOLLEGENSCHAFT sind fahl, die Körperhaltung ist eingesunken. Es ist heiss im Raum. Eine einsame Pflanze lässt ihre Blätter hängen.)
Dramatis Personae:
- ANNA: Unsere Protagonistin. Hat den fatalen Fehler gemacht, einen Funken Interesse zu zeigen.
- MARKUS: Der wohlmeinende System-Vollstrecker. Ein Manager, der Leistung aus Verfügbarkeit ableitet und Input mit Einverständnis verwechselt.
- DER CHOR DER AUSGEBRANNTEN: Das Team. Meister im stillen Leiden und im Verschieben von Urlauben.
- DIE SOUFFLEUSE: Unsere unerbittliche Analytikerin des systemischen Irrsinns.
Erster Akt: Der Sidequest-Tsunami
(Das Meeting plätschert dahin. Man bespricht das Nötigste. ANNA kommuniziert klar und ruhig.)
ANNA: ...wie gesagt, die Warteliste für die Basis-Beratung wächst weiter. Durch den Ausfall von Thomas schaffen wir aktuell nur die absoluten Notfälle. Alles Proaktive muss leider liegen bleiben.
MARKUS (nickt verständnisvoll und strahlt dabei eine beunruhigende positive Energie aus): Danke, Anna. Top, dass ihr das so gut im Griff habt! Ich höre eure Belastung, absolut. Aber – und das ist jetzt wichtig für unsere Aussenwirkung – wir müssen auch zeigen, dass wir innovativ sind! Ich dachte an eine neue Podcast-Reihe: "Fünf Minuten Zukunft". Kurze Impulse von uns für die Welt! Das wäre super für den Jahresbericht!
(Stille. Man hört eine Trauermücke gegen die Fensterscheibe fliegen. DER CHOR schaut kollektiv auf die Tischplatte.)
ANNA (atmet kaum merklich tiefer ein): Markus, wir... wir können nicht noch mehr leisten. Wir sind am Anschlag. Wir können nicht gleichzeitig kritisiert werden, zu wenig Basisarbeit zu leisten und dann noch einen Podcast aufnehmen.
MARKUS (sein Lächeln wird nur eine Nuance fester): Ich verstehe deine Sorge, Anna. Wirklich. Aber seht das nicht als Last, seht es als Chance! Eine Chance zur Sichtbarkeit! Es geht um unsere strategische Positionierung! Wir müssen Impulse setzen!
DIE SOUFFLEUSE (tritt ins Halbdunkel): Ein klassischer System-Move. Die Basisarbeit, das eigentliche Fundament, ist intern unsichtbar und bringt keinen Ruhm. Sie wird als gegeben hingenommen. Aber ein Podcast? Ah, das glänzt im Jahresbericht! Das kann man vorzeigen! Dass dafür das Fundament weiter bröckelt, ist ein Detail, das man später klären kann. Oder nie.

Zweiter Akt: Die Gremiumisierung durch Sichtbarkeit™
(Szenenwechsel. Ein lautes "Welcome Coffee"-Event. Leute wuseln durcheinander. MARKUS fängt ANNA an der Kaffeemaschine ab.)
MARKUS: Anna! Super, dass ich dich sehe! Ich hab da was für dich, das wird dir gefallen! Du interessierst dich doch für dieses KI-Zeug, hab ich gehört!
ANNA (wird schlagartig misstrauisch): Ich finde es faszinierend, ja. Aber ich habe keine Ahnung davon. Ich lese nur ab und zu was darüber.
MARKUS (strahlt, als hätte sie soeben das Perpetuum Mobile erfunden): PERFEKT! Ein frischer, unverbrauchter Blick! Das ist genau, was wir brauchen! Hör zu, wir müssen jemanden in das neue "Interdisziplinäre Strategie-Gremium für die Evaluation proaktiver KI-Synergien" schicken. Da bist du die ideale Besetzung!
ANNA (entsetzt): Nein. Absolut nicht. Ich bin dafür nicht qualifiziert. Ich habe dafür keine Zeit. Ich habe vor einem Jahr einen Artikel geteilt, das ist alles.
MARKUS (legt ihr gönnerhaft eine Hand auf die Schulter, während er sich umsieht, wer alles zuhört): Ach, komm schon! Das ist eine riesige Chance für dich, dich zu positionieren! Und es ist gut, wenn das inhouse bleibt, dann bleibt es kontrollierbar. Jemand muss es ja machen. Du machst das schon! Ich trage dich gleich mal in die Liste ein.
(Markus zwinkert ihr zu und verschwindet in der Menge, bevor Anna protestieren kann. Sie bleibt wie erstarrt zurück.)
DIE SOUFFLEUSE (tritt nun ganz nach vorne ins Licht): Und da schliesst sich der Kreis. Seht ihr es?
(Sie zeigt auf Anna.)
DIE SOUFFLEUSE: Wer sichtbar denkt, wird zuständig gemacht. Sie hat einen Funken gezeigt und das System hat ihn als Einladung zur Ausbeutung gelesen. Ihre Weigerung wurde ignoriert. Ihr "Nein" würde das System zwingen, seine eigene Blösse zu zeigen: dass es niemanden hat. Dass es blufft. Also wurde sie per Dekret zur Expertin ernannt, in einem Gremium, das zu einer Sprechblasen-Simulation verkommen wird. Das Ergebnis? Verwässerung. Rückzug. Fortschritt auf unbestimmte Zeit vertagt.

Epilog: Die innere Emigration
(Anna sitzt an ihrem Schreibtisch. Ein Kollege tritt zu ihr.)
KOLLEGE: Hey Anna, was hältst du von...?
ANNA (hebt den Blick. Ihre Augen sind ruhig, aber leer. Wie ein stiller See nach einem Tsunami): Ich habe dazu keine Meinung.
KOLLEGE (überrascht): Oh. Okay. Ähm... was hast du am Wochenende gemacht?
ANNA: Geschlafen.
(Der Kollege zieht sich verwirrt zurück. Anna blickt wieder auf ihren Bildschirm.)
DIE SOUFFLEUSE: Es ist nicht einmal böse gemeint. Es ist einfach... System. Ein System, das Leistung aus Verfügbarkeit ableitet. Das Sichtbarkeit mit Einverständnis verwechselt. Und das in seiner unstillbaren Gier nach Engagement jeden Funken erstickt, den es findet. Es hat Anna nicht gebrochen. Es hat sie optimiert. Zur perfekten, stillen Arbeitskraft, die nie wieder einen gefährlichen, eigenen Gedanken haben wird.
(Der Vorhang fällt langsam und geräuschlos.)

Das System erstickt nicht nur die Stimmen – es erstickt sich selbst.