Der Onenightstand-Effekt. Teambuilding und andere Katastrophen

Ein Stück über erzwungenes Team-Bonding und die traurige Wahrheit der Kollaboration.

(Die Bühne zeigt das bekannte Grossraumbüro. Es herrscht eine angespannte Stille. Die Mitarbeiter sitzen wie Einzelkämpfer in ihren Schützengräben aus Bildschirmen. Das Summen der Computer ist der einzige Herzschlag im Raum.)

Dramatis Personae:

  • ANNA: Unsere Protagonistin. Möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden, um ihre Arbeit zu tun.
  • FRODO (Facilitator of Deliberate Oneness): Ein externer Coach oder übermotivierter Manager. Bewaffnet mit einem Filzstift-Koffer, einem unerschütterlichen Lächeln und KI-generierten Spielideen.
  • DER CHOR DER KOLLEGENSCHAFT: Eine Gruppe von Erwachsenen, die lieber ihre Wäsche aufhängen würden. Drückt seinen Unmut durch synchrones, unterdrücktes Augenrollen aus.
  • DIE SOUFFLEUSE: Flüstert die ungeschriebenen Wahrheiten und systemischen Fehlschlüsse ins Publikum.

Vorspiel: Die Diagnose

(Das Licht geht an. DIE SOUFFLEUSE tritt nach vorne.)

DIE SOUFFLEUSE: Das System hat eine Diagnose gestellt. Krankheit: mangelnde Kollaboration. Symptome: Informationssilos, verpasste Synergien, unter den Teppich gekehrte Probleme. In der Wissensgesellschaft ist das ein leiser, schleichender Tod. Das System weiss das. Und in seiner unendlichen, panischen Kreativität hat es eine Therapie entwickelt: die Simulation von Freundschaft. Es versucht, einen Prozess von Jahren in 90 Minuten zu hacken. Ein Onenightstand in der Hoffnung auf eine Ehe. Seht selbst.

(Die Souffleuse tritt ab. FRODO betritt mit einem Sprung die Bühne.)

FRODO: Goooooood Morning, Team! Spürt ihr die Energie im Raum? Nein? Gut, genau deshalb bin ich hier! Lasst uns das Eis brechen!

(Ein lautes, kollektives Stöhnen geht durch den CHOR DER KOLLEGENSCHAFT. Es wird sofort unterdrückt.)

Ein leerer Konferenzraum mit kaltem Neonlicht. Auf einem Tisch liegt ein halb geöffneter Filzstift-Koffer, bunte Stifte quellen heraus. Ein Whiteboard zeigt das Wort „Kollaboration“ mit chaotischen Pfeilen. Eine schattenhafte Figur steht am Rand, als würde sie flüstern.
Das System diagnostiziert: mangelnde Kollaboration. Die Therapie? Ein Filzstift-Koffer und 90 Minuten erzwungene Nähe.

Erster Akt: Der Icebreaker (Das peinliche Vorspiel)

FRODO: So, Leute! Ich hab mir was ganz Verrücktes überlegt. KI-unterstützt, versteht sich! Findet eine Person im Raum, die die gleiche Schuhgrösse hat wie ihr! Na los, auf auf! Bewegt euch! Connectet!

(Anna erstarrt. Sie blickt auf ihre Füsse, als wären es Verräter. Der CHOR DER KOLLEGENSCHAFT erhebt sich widerwillig. Es beginnt eine groteske Balletteinlage des Unbehagens. Menschen hopsen unbeholfen umeinander, mustern die Schuhe der anderen, fragen schüchtern nach Grössen.)

STIMME AUS DEM CHOR 1: "Ähm... was hast du?"

STIMME AUS DEM CHOR 2: "43. Du?"

STIMME AUS DEM CHOR 1: "38. Okay, danke." (dreht sich peinlich berührt weg)

ANNA (murmelt zu sich selbst): Zehn Minuten. In zehn Minuten hätte ich die Wäsche aufhängen und die Kaffeemaschine entkalken können.

DIE SOUFFLEUSE (flüstert): Man beachte die Logik: "Oh, Klaus hat auch Schuhgrösse 44? Ein Seelenverwandter! Ihm vertraue ich jetzt blind mein komplexestes Projekt an." Ein Fundament aus Sand, auf dem ein Wolkenkratzer aus Vertrauen gebaut werden soll. Es ist peinlich, es ist unangenehm, und die einzige Brücke, die es baut, ist die der gemeinsam ertragenen Qual.

Ein Großraumbüro, in dem Menschen unbeholfen umeinander kreisen, ihre Blicke auf die Schuhe der anderen gerichtet. Eine Gestalt im Vordergrund starrt auf ihre eigenen Schuhe. Ein Flipchart mit „Connect!“ in kindlicher Schrift steht im Hintergrund, ein roter Kaffeebecher sticht hervor.
Schuhgröße 44? Ein Seelenverwandter! Der Icebreaker tanzt ein groteskes Ballett der Peinlichkeit.

Zweiter Akt: Das Teambuilding (Der erzwungene Rausch)

(Szenenwechsel. Die Bühne ist nun spärlich dekoriert wie ein gemieteter Partykeller. Es gibt Stehtische und ein Buffet mit labbrigen Sandwiches. FRODO trägt ein Hawaiihemd. Dies ist das obligatorische Team-Event nach Feierabend.)

FRODO (klatscht in die Hände): Super, dass ihr alle da seid! Vergesst die Arbeit, lernt euch als Menschen kennen! Bildet eine Familie! Aber mit Consent, haha!

(Der CHOR steht in kleinen, verkrampften Grüppchen herum. Das Geräusch von erzwungenem Smalltalk füllt den Raum. Es ist eine Kakofonie der Banalitäten.)

DIE SOUFFLEUSE: Die Smalltalk-Folter hat begonnen. Ein hyperkonzentrierter Interaktionsburst, der die introvertierte Seele zum Kollabieren bringt. Urlaubspläne werden ausgetauscht. Renovierungsprojekte erörtert. Es wird über Hobbys gelogen, um interessanter zu wirken. Anna befindet sich mitten im Gefecht.

(Spotlight auf ANNA. Sie steht zwischen zwei Kollegen. Ihr Lächeln ist eingefroren. Ihre Augen sind glasig. Im Hintergrund hört man die Stimmen wie Echos.)

KOLLEGE 1: "...und dann haben wir uns für die grauen Fliesen entschieden, weil beige so..."

KOLLEGE 2: "...meine Katze, die macht das auch immer, wenn sie..."

(Anna nickt nur noch. Ihr Kopf ist ein übervoller Schwamm, der kurz vor dem Platzen steht.)

DIE SOUFFLEUSE: Jedes Wort, das sie sagt, wird zur Hypothek. Habe ich zu viel erzählt? War die Lüge über meine angebliche Leidenschaft fürs Töpfern glaubhaft? Fortan muss sie sich merken, wem sie welche Version ihres Privatlebens verkauft hat. Das ist keine Familienfeier. Das ist eine nachrichtendienstliche Operation mit hohem Risiko.

Ein gemieteter Partykeller mit billigen Luftschlangen und labbrigen Sandwiches auf einem Tisch. Menschen in verkrampften Grüppchen halten Plastikbecher, eine Gestalt im Zentrum zeigt ein eingefrorenes Lächeln. Ein Facilitator im Hawaiihemd klatscht überschwänglich, Neonlicht flackert.
Smalltalk als Folter, labbrige Sandwiches als Trost. Willkommen im erzwungenen Rausch des Teambuildings.

Epilog: Der Morgen danach (Das verkatert-nüchterne Fazit)

(Wieder das Büro. Am Tag nach dem Event. Die Luft knistert vor ungesagten Dingen. Menschen meiden den Blickkontakt. Man nickt sich nur kurz zu und flüchtet an den eigenen Platz.)

(DIE SOUFFLEUSE tritt nach vorne. Sie blickt mitleidig auf die erstarrte Szene.)

DIE SOUFFLEUSE: Der Morgen nach dem Onenightstand. Das peinliche Schweigen. Die Erkenntnis, dass eine Nacht erzwungener Nähe keine Intimität schafft. Nur die vage Erinnerung an zu viel preisgegebene Informationen und ein sozialer Kater. Echte Zusammenarbeit, echtes Vertrauen… das ist kein Sprint. Das ist ein Marathon aus tausenden kleinen Mikrogesten. Ein Einspielen von Humor. Ein gemeinsames Leiden an den gleichen dummen Prozessen. Ein stilles Verständnis, das über Jahre wächst. Selbst Kühe, meine Damen und Herren, wählen ihre Nachbarn im Stall sorgfältig aus. Sie lassen sich nicht per Powerpoint-Präsentation zu einer Zwangsherde formen.

(Sie hält inne und blickt das Publikum direkt an.)

DIE SOUFFLEUSE: Das System will eine Ehe. Aber es investiert nur für eine Nacht. Und in seiner blinden Effizienzsucht merkt es nicht einmal, wie absurd das ist.

(Der Vorhang fällt langsam und gibt den Blick frei auf zwanzig Einzelkämpfer, die nach dem erzwungenen "Wir" wieder schmerzhaft "Ich" sind.)

Ein Großraumbüro am Morgen, Menschen an Schreibtischen meiden Blickkontakt. Ein leerer Kaffeebecher mit rotem Lippenstiftabdruck steht im Vordergrund. Ein Whiteboard im Hintergrund zeigt das halb weggewischte Wort „Teamspirit“ unter kaltem Neonlicht.
Der Morgen nach dem Onenightstand. Teamspirit? Ein halb weggewischtes Wort und ein sozialer Kater.