
Der letzte Atemzug vor dem Aufbruch
Ein Drama in vier Zügen – aus der Lunge, die zu lange geschwiegen hat.
1. Zug: Der Eintritt
Ich bin die Lunge.
Ich bin nicht dafür gebaut, Befehle zu empfangen.
Ich dehne mich, wenn du mir Raum gibst.
Ich ströme, wenn du nicht zurückhältst.
Ich bin der erste Schrei nach der Geburt –
und der letzte Seufzer vor dem Tod.
Und doch…
hast du mir beigebracht, flach zu bleiben.
Für das System. Für die Form. Für den Schein.
2. Zug: Der Pakt
Ich habe gelernt, mich anzupassen.
Habe mich geräuspert, wenn du dich nicht trautest,
„Nein“ zu sagen.
Habe gebrummt, wenn du durchgearbeitet hast,
obwohl ich längst auf Reserve lief.
Ich habe gereicht. Immer.
Selbst mit halber Kapazität.
Selbst mit Schleim.
Selbst mit Reizgas aus dem Grossraumbüro.
Denn wer husten muss, stört.
Wer tief durchatmet, nimmt zu viel Raum ein.
Wer atmet, lebt – aber nur leise bitte.
Zwischenton: Die stille Selbstkontrolle
Ich habe gelernt, mich nicht zu hören.
Nicht zu schnaufen. Nicht zu hecheln.
Nicht zu zeigen, dass mir die Luft fehlt.
Ich atme flach,
damit niemand merkt, dass ich da bin.
Ich schliesse den Mund,
weil Mundatmung nach Schwäche klingt.
Ich verhalte mich ruhig,
weil tiefe Atemzüge zu viel verlangen würden:
Raum. Aufmerksamkeit. Erlaubnis.
3. Zug: Die Überreizung
Du hast gesagt, „nur kurz durchhalten“.
Ich habe gesagt, „okay“.
Du hast gesagt, „der nächste Sprint“.
Ich habe gesagt, „noch einmal“.
Doch dann kam der Tag,
an dem ich nicht mehr flach blieb.
An dem ich mich aufbäumte.
Nicht aus Trotz. Aus Not.
Die Bronchien wurden eng, die Luft knapp,
das System zu laut für meine Stille.
Die Freiheit zu weit weg.
4. Zug: Die Arie
Ich will atmen.
Nicht effizient.
Nicht taktisch.
Nicht dosiert.
Ich will atmen – ganz.
Nicht für andere.
Nicht für Termine.
Nicht für Zähne zusammenbeissen.
Ich will atmen, um mich selbst zu spüren.
Nicht, um zu funktionieren.
Epilog (hinter dem Vorhang)
Die Lunge atmet weiter.
Manchmal in Seufzern.
Manchmal im Husten.
Manchmal im Schweigen.
Aber wenn du genau hinhörst,
hörst du ihr Lied.
Es klingt wie ein "Nein",
das sich endlich zu einem
"Ja zu mir" entfaltet hat.
Nachsatz aus dem Inhalationsraum
(Fundstück aus dem Aktenordner: „Therapieplan für Lungen mit Attitüde“)
Anleitung für korrekte Anwendung:
Betreten Sie den Raum mit maximaler Demut.
Nehmen Sie Platz zwischen Tupperdose und Trockenpflanze.
Atmen Sie rhythmisch zum Rauschen des Wandgeräts.
Versuchen Sie, Ihre Existenz auf Wasserdampf zu reduzieren.
Vermeiden Sie Blickkontakt mit anderen Lungen.
(Vergleiche machen krank.)
Wichtig:
Bitte deuten Sie das gelegentliche Gefühl von Erstickung nicht als Symbol.
Es ist rein psychosomatisch.
Wir nennen es: Lernkurve™.
Hinweis der Verwaltung:
Nach der Inhalation sind Sie wieder einsatzbereit.
Oder wenigstens formatiert.
„Ich atme weiter.
Nicht, weil es leicht ist.
Sondern, weil ich es mir irgendwann versprochen habe.“