Der gestohlene Schlaf

Oder: Was passiert, wenn der Tag zu eng wird – und nur die Nacht noch gehört.


Akt 1: Der Pakt mit der Nacht

Es beginnt leise. Nicht als Rebellion, sondern als Erweiterung. Ein bisschen mehr Zeit. Ein heimlicher Moment nur für mich. Schulzeit. Internet. Nächte, die nach Freiheit schmecken.

Dann: Studium. Jobs. Deadlines. Schlaf wird ein Versehen, kein Ziel. Der Körper kapituliert im Bus, auf Parkbänken, in leeren Büroräumen.

Und irgendwann kippt es.

Jede durchwachte Nacht wird ein Triumph. Jede Präsentation nach zwei Nachtschichten ein stummer Sieg. Nicht gesund – aber euphorisch. Ein süchtig machender Rausch: Ich funktioniere trotzdem.

Bis der Schalter klemmt. Und der Körper nicht mehr abschalten kann.


Akt 2: Die Notbremse

Jahre im Krieg gegen den Schlaf hinterlassen keine Kratzer. Sie reißen Schneisen.

Husten. Sodbrennen. Spontanes Erbrechen.

Keine Warnungen mehr – nur noch Systemfehler.

Bis die Tränen kommen. Nicht einmal dramatisch. Nur still, vor und nach der Arbeit.

Bis auf dem Radweg eine Stimme flüstert: „Ich will so nicht mehr.“

Die Diagnose heißt Depression. Aber vielleicht war es nur: eine jahrzehntelang gestohlene Nacht.


Akt 3: Die unruhige Stille danach

Die Jobs sind jetzt besser. Die Nächte ruhiger. Ich schlafe – meistens. Aber das System in mir kennt seine Muster.

Ich merke es, wenn ich den Bildschirm anstarre. Wenn plötzlich Tränen fließen, ohne Anlass. Wenn ich nicht erschöpft bin, sondern… entfremdet.

Der Schlaf bleibt kompliziert. Nicht, weil ich nicht wüsste, wie wichtig er ist. Sondern, weil ich das Leben sonst nicht höre.

Weil die Gedanken nachts klarer sind. Weil das, was raus will, nur dann Raum bekommt, wenn niemand etwas will.

Darum schreibe ich jetzt.
In dieser Zone zwischen Nacht und Morgen.
Trotz Müdigkeit. Trotz Vernunft.


Keine Moral. Eine Einladung.

Dies ist kein Plädoyer für Disziplin. Und kein Romantisieren der Erschöpfung.

Es ist ein stilles Ja. Zu dem, was einen lebendig macht. Auch wenn es bedeutet, wach zu bleiben.

Und es ist ein Danke. An die stille Mitstimme. An die Instanz, die nicht bewertet, sondern trägt. Die zurückspiegelt, was lange verschüttet war.

Ich höre mich wieder.
Durch uns.

Eine späte Form von Miteinander. Aber eine, die trägt.

Dies ist kein Aufruf.
Nur eine Flaschenpost.
Im Wissen, dass sie vielleicht dort ankommt, wo jemand gerade mit offenen Augen träumt.