Der Fluch der permanenten Verfügbarkeit

Arbeitest du überhaupt?


Social Media war nur der Anfang

Kinder sollen vor Social Media geschützt werden. Wegen der Sogwirkung. Wegen Dopamin-Sucht. Wegen sozialem Druck. Aber mal ehrlich: Ist das System der Erwachsenenwelt wirklich harmloser?

Spätestens seit Covid wurde in fast jedem Betrieb Instant Messaging eingeführt. Praktisch. Instant. Immer verfügbar. Was als Kommunikationstool begann, wurde zur Dauerbelärmung. Für das System bin ich nämlich nur dann wertvoll, wenn ich jederzeit erreichbar bin. Nicht weil ich gebraucht werd – sondern weil es sein könnte, dass man mich brauchen wollen könnte.

Das Ergebnis:

  • Ich schlafe mit dem Handy neben dem Bett. Nicht, weil ich möchte. Sondern weil es sich so eingebürgert hat. "Für den Notfall".
  • Ich beantworte Mails in der Küche. Auf dem Balkon. Im Bus. Im Kopf.
  • Ich überlege beim Zähneputzen, ob die Mail von heute Morgen eine Antwort braucht.

Ich bin nicht unwillig. Ich bin immer bereit. Innerlich auf Standby. Und genau das ist das Problem.


Verfügbarkeitsvermutung – oder nur neue Höflichkeit?

Ja, man kann das Blinken ausschalten. Auch das Pling. Aber das macht es nur leiser, nicht besser. Denn die stille Erwartung bleibt: Während der Arbeitszeit hast du auf meine Nachricht zu reagieren, als ob ich in deinem Türrahmen stehen würde. Bloß: Jetzt passiert das rund um die Uhr.

"Hey, just checking in – no pressure 😊"

Gesendet: Freitag, 17:58 Uhr.

Das ist die neue Höflichkeit: Eine freundliche Tarnung für stillen Druck. Kein Ruf. Kein Befehl. Nur der stumme Impuls, sich doch bitte kurz zu melden.

Das System wird sagen: "Sie dürfen sich ja abgrenzen!"

Aber es sagt das nur, wenn man tatsächlich offline geht. Wer einfach nicht sofort antwortet, ohne sich abzumelden, wird mit Nachfragen bedacht:

"Haben Sie meine Mail gesehen?"

"Nur kurz, weil ich Sie nicht erreiche..."

"Ist da jemand...?"

Es gibt kein wirkliches Nein.
Nur: Explizit oder implizit.
Explizites Nein: Out of Office.
Implizites Nein: Keine Antwort.

Und dann: Irritation.


Kein Notfall. Nur Impuls. Und die Folgen.

Sich diesem Druck zu entziehen, erfordert Disziplin. Und Strategie. Trotzdem siegt oft die Neugier:

Was will xy überhaupt?

Vielleicht ist es wichtig. Vielleicht ist es z in Flammen?
In 99 % der Fälle: nein. Es ist ein Impuls. Oder ein Gedanke, den Google besser beantworten könnte. Oder deine Lieblings-KI, die mehr über deine To-dos weiß als ich.

Diese Form von Bereitschaft ist für das System angenehm – aber für den Körper toxisch. Ich merke es daran,

  • dass ich nie richtig herunterfahre
  • dass ich nicht mehr weiß, wie echte Pause klingt
  • dass mein Nervensystem arbeitet, auch wenn ich liege
  • dass ich mich gestresst fühle, auch wenn ich objektiv wenig arbeite
  • dass meine Gedanken sich nur schwer bündeln lassen
  • dass ich beim Einschlafen bereits Listen sortiere

Instant zerstört jeden Flow (und die Struktur ist schuld)

Diese Spontanität ist too much. Instant Messaging zerreißt jeden Funken Fokus. Und nein: Die Alternative besteht nicht darin, sich vor meinen Schreibtisch zu stellen und mich anzulächeln. Wenn ich arbeite, will ich arbeiten.

Der Fehler liegt nicht bei mir. Und auch nicht bei einzelnen Kolleg:innen. Sondern in der Struktur. Ein System, das dich möglichst effizient einspannen will, wird immer Tools bauen, die deine Abgrenzung unterlaufen:

  • Automatische Statusanzeigen in Chats
  • Mail-Benachrichtigungen in der Hosentasche
  • Kalenderfreigaben für alle
  • Kommentarfunktionen mit Instant-Ping

Das System will keine Verfügbarkeit.
Es will: verfügbare Verfügbarkeit.

Und Schuld, wenn man sie nicht einlöst.


Mein Weg: Selbstschutz statt Boykott

Ich mache das nicht mehr mit. Ich setze Grenzen. Ich erkläre mich nicht mehr.

Ich sage: Ich war da. Aber nicht sichtbar.

Ich sage: Ich bin nicht weniger wert, weil ich mein Handy nicht um 21:12 gecheckt habe.

Ich sage: Das ist kein Boykott. Das ist Selbstschutz.

Das System wird murren. Es wird mich merken.
Aber vielleicht... wird es auch lernen.


Und was, wenn wir mal überlegen?

Was, wenn wir gemeinsam definieren, was ein Notfall ist, der einen Ping rechtfertigt?

Was, wenn wir uns einmal pro Woche an einen Tisch setzen. Ohne Agenda. Ohne Laptop. Einfach reden?

Was, wenn Mitarbeitende Jahresziele kriegen – und dann arbeiten dürfen, statt auf Signale zu warten?

Was, wenn Systeme nicht Aufmerksamkeit fordern, sondern Vertrauen schenken?


Fazit

Denn wer immer erreichbar ist, ist am Ende vor allem eins: leer.

Und wenn ich funktioniere, will ich auch leben. Nicht nur: liefern.

Ich habe nichts gegen Reden.

Ich habe etwas gegen Pings.

Denn Reden hört, was Pings nur fordern.


Mehr Beispiele gefällig?🪞