Der Betriebsanlass™ – Ein Kammerspiel in drei Akten über erzwungene Fröhlichkeit und kalte Häppchen

 

(Die Bühne ist ein unpersönlicher Mehrzweckraum, der verzweifelt versucht, festlich auszusehen. Ein paar einsame Luftballons hängen schlaff von der Decke. In der Ecke steht ein mit weissem Tuch verhüllter Tisch – das zukünftige Schlachtfeld des Buffets. Eine riesige Leinwand dominiert den Hintergrund.)

Dramatis Personae:

  • ANNA: Unsere leidgeprüfte Heldin. Träumt von einem warmen Essen.
  • KLAUS: Der Pragmatiker, dessen Loyalität seiner Katze gilt.
  • KEVIN: Das tragische Opfer unsichtbarer Inhaltsstoffe.
  • TINE, die Abwesende: Die wahre Gewinnerin, nicht auf der Bühne, aber im Geiste.
  • DER DIREKTOR: Ein Zeremonienmeister der leeren Worte.
  • DER CHOR DER BELEGSCHAFT: Eine nervös wartende Herde.
  • DIE SOUFFLEUSE: Protokollantin der unterdrückten Wahrheit.

Erster Akt: Das digitale Vorbeben

(Das Licht geht an. Die Leinwand zeigt einen monströsen Screenshot eines Doodle-Polls. Unzählige Namen sind gelistet. Daneben, in der Kommentarspalte, ein öffentliches Sündenregister diätetischer Bedürfnisse.)

DER CHOR DER BELEGSCHAFT (steht im Halbdunkel und spricht im Chor, wie von E-Mail-Remindern gequält):

"Bitte eintragen."

"Final Reminder: Weihnachtsfeier."

"Letzte Chance zur Anmeldung."

"Wir müssen planen."

"An- oder abmelden!"

DIE SOUFFLEUSE (tritt ins Licht und deutet auf die Leinwand): Seht her. Das digitale Präludium der Freude. Man darf freiwillig teilnehmen und ist damit sichtbar. Die einzige Alternative ist die ebenso freiwillige soziale Quarantäne im neuen Jahr. Und die Büchse der Pandora, getarnt als Kommentarfeld. Wo 300 Kollegen erfahren, dass Annas Verdauungssystem ein empfindliches Biotop ist, während Klaus sein neues Vegetariertum zur Schau stellt, das Fische seltsamerweise ausschließt. Privatsphäre, filetiert für ein kaltes Häppchen.

(ANNA steht vor der Leinwand. Sie zögert, ihr Mauszeiger schwebt über dem „Anmelden“-Button. Mit einem tiefen Seufzer klickt sie. Der Klick hallt im Raum wider wie das Schließen einer Gefängnistür.)

Doodle Szene mit duzenden von Optionen und Unverträglichkeiten
Alle müssen exakt wissen, wer was nicht verträgt.

Zweiter Akt: Die Predigt der drei Erfolge

(Der Raum ist gefüllt mit dem stehenden CHOR DER BELEGSCHAFT. Die Stimmung ist eine Mischung aus gespannter Langeweile und Hunger. 1/3 der Leute lehnt an den Wänden. ANNA sitzt bereits auf dem Boden und umklammert ihre Knie.)

(DER DIREKTOR betritt die Bühne, als wäre sie ein G8-Gipfel. Er strahlt eine Professionalität aus, die seit Stunden im Spiegel geübt wurde.)

DER DIREKTOR: Ein phänomenales Jahr liegt hinter uns, liebes Team! Phä-no-me-nal! (Er macht eine Pause, die Applaus provozieren soll, aber nur Husten erntet.) Die Zukunft ist... herausfordernd, aber wir sind agil! Und nun zu den Highlights, denn Erfolge müssen gefeiert werden!

DIE SOUFFLEUSE übersetzt: Er meint damit Hiring Freeze und Budgetkürzungen.

(Ein scharfer Spot auf DER DIREKTOR. Er hält eine Liste in der Hand.)

DER DIREKTOR: Team Marketing! (Ein weiterer Spot schwenkt zu einem sichtlich nervösen Teamleiter.) Ihr hattet drei große Erfolge! Erstens: Die fantastische Kampagne für Produkt X. Zweitens: Der Relaunch der Landingpage. Drittens: Die tolle Stimmung im Team! (Er nickt dem Teamleiter bedeutungsvoll zu.) Seeeeee, ich hab dich erwähnt! Das ist dein Jahresbonus, geil, gell?

(Der Prozess wiederholt sich für jedes Team. Immer drei Erfolge. Nie mehr, nie weniger. Kein einziges Problem wird erwähnt. Das Wort „Synergie“ fällt 17 Mal. Die Ansprache dauert eine gefühlte Ewigkeit.)

DIE SOUFFLEUSE: Das ist sie. Die große jährliche Aufführung der Selbstbeweihräucherung. Eine dreißigminütige Liturgie, in der die Realität durch eine PowerPoint-Politur ersetzt wird. Es ist das Ritual, das zählt, nicht der Inhalt. Man zeigt Gesicht, um es nicht zu verlieren. Anna hat bereits kapituliert. Ihre Sitzposition ist eine stille Rebellion.


Dritter Akt: Der Ansturm auf die kalte Platte

(DER DIREKTOR schließt seine Rede.)

DER DIREKTOR: Also, lasst uns das feiern bei… einem Stehapero mit kalten Häppchen!

(Ein Schuss ertönt – metaphorisch. DER CHOR DER BELEGSCHAFT stürzt wie eine einzige, ausgehungerte Kreatur auf den nun enthüllten Tisch zu. Es ist ein Krieg um Mini-Pizzen und undefinierbare Spieße.)

(Spotlicht auf die Schlüsselmomente des Chaos:)

  • KLAUS: Drängelt sich an die Spitze, sichert sich vier Fleischbällchen und wickelt sie geschickt in eine Serviette. Er murmelt: "Für Minka. Sie hatte einen harten Tag. Und sie hasst Fisch. Sie ist prinzipientreuer als ich."
  • KEVIN: Greift sich hungrig ein harmlos aussehendes Blätterteiggebäck. Nach einem Bissen erstarrt er. Sein Gesicht verfärbt sich. Man sieht ihn mit der Hand vor dem Mund Richtung Toiletten schleichen.
  • EIN KOLLEGE (der übliche Verdächtige): Patrouilliert mit einer Flasche billigen Weißweins. "Hey, Anna! Mach mit, ist doch Weihnachten! Nicht so ne Spassbremse sein!"
  • ANNA: Wartet geduldig, bis der größte Ansturm vorbei ist. Sie findet den Teller mit der Aufschrift „Anna – Laktose/Fruktose/Glutenfrei“. Er ist leer. Bis auf eine einzelne, verlassene Olive.

(Ihre Schultern sacken in sich zusammen. Ihr Blick ist leer.)

ANNA (zum Publikum): Nichts schreit so sehr „Danke für deinen unermüdlichen Einsatz das ganze Jahr über“ wie eine einsame Olive. Das Einzige, was hier wirklich frei von allem war, war Wertschätzung.

(Ein lautes Klatschen. Ein Manager beendet die "Party".)

MANAGER: So, Leute, vielen Dank! War super! Denkt dran, in 15 Minuten startet das nächste Meeting!

(Die festliche Musik stoppt abrupt. Die grellen Neonröhren gehen wieder an. Die Leute verstreuen sich, zurück bleiben ein verwüstetes Buffet und leere Weingläser.)

Buffet-Szene, Direktor im Hintergrund
Keine Fragen stellen. Einfach nicken.

Epilog: Die Offenbarung

(Anna steht noch immer verloren im Raum. Ihr Handy surrt. Sie schaut darauf. Auf die Leinwand wird projiziert, was sie sieht: Eine Instagram-Story von TINE.)

(PROJEKTION: Ein Foto von Tines Füssen in einer Badewanne voller Schaum. In der Hand hält sie ein Glas, das definitiv keinen billigen Weißwein enthält. Der Text darunter: Manchmal muss man einfach auf seinen Körper hören! Schönen Feierabend euch allen 😉 #selfcare #krankistkrank)

DIE SOUFFLEUSE (tritt ein letztes Mal vor): Und so endet es. Mit der bitteren Erkenntnis. Es ging nie darum zu feiern. Es ging darum, an einem Ritual teilzunehmen, das Wertschätzung simuliert. Man verliert so oder so. Wer mitmacht, verliert seine Zeit und bekommt kalte Häppchen. Wer nicht mitmacht, verliert sozialen Status.

Und Tine? Tine hat das System nicht nur gehackt. Sie badet darin.

(Das Licht geht aus. Man hört nur das leise, traurige Geräusch von Annas Magen, der knurrt.)

(Der Vorhang fällt.)

Post von Tine auf dem Screen, Anna mit Olive
Wer krank ist, darf nicht feiern. Wer feiert, war nie krank.