
Das Spiel der Ausweichverben
Ein Trauerspiel in drei Phasen, ohne offizielle To-dos.
(Die Bühne ist, wie könnte es anders sein, ein karger Meetingraum. Ein Whiteboard an der Wand ist mit Buzzwords wie "Synergie", "Transformation" und "Roadmap Q4" bekritzelt. Der Beamer wirft ein leeres "Nächste Schritte?"-Template an die Wand. Die Luft ist dick von ungesagten Wahrheiten und dem Geruch von abgestandenem Kaffee.)
Dramatis Personae:
- ANNA, die Wagemutige: Ein Funke Hoffnung in einem Meer der Apathie. Hat den fatalen Fehler begangen, produktiv zu denken.
- DER MEETING-LEITER: Der souveräne Dirigent des Stillstands. Seine Hauptaufgabe: das Meeting ohne Ergebnis beenden.
- Der „LEIDGENOSSE™“: Ein Kollege, der längst aufgegeben hat, aber beim Lamentieren glänzt.
- DER CHOR DER VERMEIDUNG: Drei Gestalten, die im Einklang sprechen. Jeder hält ein großes Schild: Einer ein Puzzle-Teil (🧩), einer ein Alarm-Licht (🚨), einer einen Klumpen Butter (🧈).
- DIE SOUFFLEUSE: Unsere unentbehrliche Stimme der Meta-Ebene.
Phase 1: Der naive Anstoß
(Das Meeting plätschert vor sich hin. Man nickt, man schaut auf die Uhr. DER MEETING-LEITER blickt in die Runde, ein Lächeln auf den Lippen, das sagt: "Lasst uns das hier schnell beenden.")
DER MEETING-LEITER: Gibt es noch weitere Punkte? Ansonsten wären wir für heute durch...
(Eine gefährliche Stille entsteht. Der Chor der Vermeidung entspannt sich sichtlich. Doch dann, ein Fauxpas: ANNA räuspert sich.)
ANNA: Ähm, ja. Eine Sache hätte ich da noch. Mir ist aufgefallen, dass unser Prozess XY immer wieder zu unnötigen Schleifen führt. Ich glaube, wenn wir Schritt B vor Schritt A ziehen, könnten wir uns wöchentlich zwei Stunden Meetings sparen.
(Schockstille. Alle Blicke richten sich auf ANNA. Es ist, als hätte jemand mitten in der Kirche geflucht. Der MEETING-LEITER verliert kurz die Fassung, fängt sich aber sofort wieder.)
DIE SOUFFLEUSE (flüstert ins Publikum): Hören Sie das? Das Geräusch einer tickenden Zeitbombe. Ein konstruktiver Vorschlag. Im Ökosystem der Überlastung ist das ein aggressiver Akt. Denn was nun folgt, ist keine Lösungsfindung. Es ist ein Abwehrritual.
Phase 2: Das Ritual der sprachlichen Abwehr
(DER MEETING-LEITER nickt langsam, weise. Er wendet sich dem CHOR DER VERMEIDUNG zu und gibt ihm mit einem subtilen Blick das Einsatzzeichen.)
DER MEETING-LEITER: Guter Punkt, Anna. Sehr guter Punkt. Was meint ihr dazu?
(Das Abwehrritual beginnt. Der CHOR tanzt einen langsamen, bürokratischen Reigen.)
CHOR-Mitglied 🧩 (hält das Puzzle-Schild hoch): Das Problem ist uns bekannt. Eine absolute Legacy-Situation. Das braucht zuerst ein sauberes Konzept.
(Er macht einen Schritt zurück.)
CHOR-Mitglied 🚨 (tritt vor, wedelt mit dem Alarm-Schild): Vorsicht! Das ist eine hochgradig komplexe Systemabhängigkeit! Da dürfen wir nicht einfach so ran. Aber: Wir schauen uns das an. Steht nur leider aktuell nicht auf der Prio-Liste.
(Er macht einen Schritt zurück.)
CHOR-Mitglied 🧈 (gleitet nach vorne, das Butter-Schild glänzt): Man könnte das sicher vereinfachen. (Eine Pause. Ein Kollege, der LEIDGENOSSE™, nickt zustimmend.)
LEIDGENOSSE™: Ja, total, da bin ich neulich auch wieder drüber gestolpert. Furchtbar ist das.
CHOR-Mitglied 🧈: Danke für die eindrückliche Zusammenfassung, Anna. Das nehmen wir so mit.
(Die drei CHOR-Mitglieder verneigen sich leicht. Die sprachliche Nebelwand steht.)
DIE SOUFFLEUSE: Grandios, nicht wahr? Phase 1: Es als zu komplex darstellen. Phase 2: Es als zu gefährlich oder unwichtig brandmarken. Phase 3: Mit warmer Empathie und leeren Worten zudecken, bis es erstickt. Keine einzige dieser Aussagen war eine Lüge. Jede Aussage für sich: plausibel. Und doch haben alle gemeinsam gelogen und in der Summe sabotiert.
Phase 3: Der Genickschuss (a.k.a. Das Heiße-Kartoffel-Prinzip)
(ANNA ist sichtlich verwirrt. Der Vorschlag ist im verbalen Bermuda-Dreieck verschwunden. Doch die finale, tödliche Falle ist noch nicht zugeschnappt. DER MEETING-LEITER lächelt ANNA väterlich an.)
DER MEETING-LEITER: Anna, ich bin begeistert von deinem Engagement. Das Thema liegt dir sichtlich am Herzen. Weißt du was?
(Dramatische Pause.)
DER MEETING-LEITER: Wer kritisiert, kümmert sich. Mach du doch mal den ersten Aufschlag. Skizziere uns das Konzept, lade zu einem Workshop ein. Du bist da ja am tiefsten drin. Wir unterstützen dich dann mental.
(Ein kollektives Aufatmen und zustimmendes Nicken im Raum. Der CHOR DER VERMEIDUNG klopft Anna symbolisch auf die Schulter.)
ANNA (stammelt): Aber… mein Arbeitsstapel ist schon… ich dachte…
(Zu spät. Die heiße Kartoffel der Verantwortung wurde erfolgreich weitergereicht. Das Schicksal von ANNA ist besiegelt.)
DIE SOUFFLEUSE: Und das ist es. Der ultimative Abschreckungsmechanismus. Hänge jedem, der den Mund aufmacht, die Arbeit an. Nach zwei, drei Runden in diesem Spiel fragst du dich nicht mehr, warum ein Prozess ineffizient ist. Du fragst dich, warum überhaupt noch jemand redet.
(Das Meeting wird beendet. Es gibt keine To-dos auf dem Whiteboard. Alle verlassen den Raum. Nur ANNA bleibt zurück und starrt auf den eigenen, unsichtbaren, aber soeben gewachsenen Berg an Arbeit.)
Epilog: Das Follow-up-Phantom
Auf der Bühnenleinwand erscheint ein Schild: “Zwei Wochen später”. Ein sanfter Nebel zieht über die Bühne. ANNA trifft im Flur auf den MEETING-Leiter und fragt nach.
„Ach so, da war ja was. Hatte ich irgendwie nicht mehr auf dem Schirm.“
DIE SOUFFLEUSE (betritt ein letztes Mal die Bühne): Was Sie hier gesehen haben, ist kein Einzelfall. Man nennt es „Es sollte mal jemand… irgendwann… vielleicht… wir bräuchten Ressourcen“-Ritual™”. Wir alle führen es täglich auf. Und nennen es Arbeitsleben.
(Der Vorhang fällt. Die heiße Kartoffel dampft noch leise in der Ecke.)
Phrasenregister des stillen Rückzugs™
🧩 | 🚨 | 🧈 |
„Das ist uns bekannt.“ | „Komplexe Systemabhängigkeit“ | „Könnte man vereinfachen.“ |
„Braucht ein Konzept.“ | „Wir schauen das an.“ | „Danke für die Zusammenfassung“ |
„Legacy-Situation“ | „Nicht auf Prio-Liste“ | Live-Quote vom Leidgenossen™ |