
Das Duell der Giganten - Wenn zwei sich streiten, zahlt der Dritte™
Ein Stück über die heilige Inquisition der Zuständigkeit in zwei Akten und einem verdammten Epilog.
(Die Bühne ist düster und erinnert an eine Mischung aus Boxring und Gerichtssaal. In der Mitte steht ein einzelner, unbequemer Stuhl. Von der Decke hängen zwei riesige, angestaubte Banner. Auf dem einen steht in fetten, unnachgiebigen Lettern "UNFALL". Auf dem anderen, in schleichenden, fast unleserlichen Buchstaben, "Krankheit".)
Dramatis Personae:
- DER BETROFFENE: Ein Mann. Der Spieler und zugleich das Spielfeld. Sein Bein ist die Arena.
- DER UNFALL: Eine Gestalt in einem viel zu engen, Nadelstreifenanzug. Spricht kurzangebunden und aggressiv, zitiert unentwegt aus einem unsichtbaren Regelwerk. Seine Bewegungen sind zackig, plötzlich und äußerlich.
- DIE KRANKHEIT: Eine Gestalt in einem schlabbrigen Kittel. Spricht langsam, bedächtig, fast gelangweilt. Bewegt sich schleichend und unmerklich. Sie repräsentiert den Verfall von innen.
- DER MEDIZINER: Eine gehetzte, überarbeitete Figur, die ständig auf die Uhr schaut und versucht, das Richtige zu tun.
- DIE SOUFFLEUSE: Unsere Chronistin des Systemversagens, die die Regeln des manipulierten Spiels kennt.
Prolog: Die Arena
(Das Licht geht an. DIE SOUFFLEUSE tritt in die Mitte der Bühne.)
DIE SOUFFLEUSE: Meine Damen und Herren, willkommen zum Kampf des Jahrhunderts! In dieser Ecke, der Champion der plötzlichen, äußeren Einwirkung: der UNFALL! Und in der anderen Ecke, der Meister des schleichenden, inneren Verfalls: die KRANKHEIT! Zwei Titanen. Zwei Versicherungen. Ein Ziel: Nicht zahlen zu müssen. Und hier in der Mitte... (sie deutet auf den leeren Stuhl) ...das Spielfeld. Der menschliche Körper. Nennen wir ihn den BETROFFENEN. Er glaubt, er sei versichert. Ein rührender Gedanke. Lassen Sie die Spiele beginnen.
Erster Akt: Der Vorfall (und die ärztliche Odyssee)
(Die Szene wird laut. Partymusik. Menschen tanzen stilisiert und unkoordiniert. DER BETROFFENE ist unter ihnen. Plötzlich: ein lauter KNALL! aus der Orchestergrube. Die Musik stoppt. DER BETROFFENE greift sich ans Bein und sinkt zu Boden. Stille.)
DER BETROFFENE: Aua! Ich glaube, mich hat jemand getreten... oder... ich weiß es nicht. Es hat nur geknallt.
(Szenenwechsel. Notaufnahme. DER MEDIZINER beugt sich über den BETROFFENEN.)
DER MEDIZINER: Ja, ja, Muskelfaserriss. Sehr schmerzhaft. Nehmen Sie das hier. In 3 bis 5 Tagen ist das wieder gut. Nächster!
(Szenenwechsel. Wochen später. DER BETROFFENE humpelt zurück auf die Bühne, sein Bein ist sichtlich geschwollen.)
DER BETROFFENE: Es ist schlimmer geworden!
DER MEDIZINER (kommt wieder, drückt ungeduldig am Bein herum): Hm. Seltsam. Sollte längst wieder okay sein. Also, rein medizinisch gesehen... na gut, hier: ein Rezept für Physiotherapie. Dringend empfohlen! Tun Sie das, dann wird das wieder! Sie sind ja versichert!
DIE SOUFFLEUSE (flüstert ins Publikum): Man beachte den tragischen Moment. Der Mediziner, der aus medizinischer Notwendigkeit handelt, setzt unwissentlich die Kostenfalle in Gang. Er gibt einen Befehl. Der Betroffene, ein guter Soldat, wird ihn ausführen. Er wird nicht wissen, dass er gerade eine finanzielle Zeitbombe scharf gemacht hat, die Monate später hochgehen wird.

Zweiter Akt: Die Verhandlung (Das Zuschieben des Schwarzen Peters)
(Die Bühne ist wieder der Boxring. DER BETROFFENE sitzt auf dem Stuhl in der Mitte. DER UNFALL und DIE KRANKHEIT umkreisen ihn wie zwei Hyänen.)
DER UNFALL (bleibt stehen, stösst einen Finger in die Luft): STOPP! Wir haben geprüft. Vorfall fand auf einer Party statt. Ja. Beim Tanzen. Ja. ABER! Fehlte die entscheidende Komponente: Einwirkung von außen. Klar. Ungewöhnlich. Und plötzlich. Wo ist der Beweis? Ein Zeuge, der einen Tritt gesehen hat? Ein umgefallener Gegenstand? Ein abstürzendes Klavier? Nichts davon. Tanzen ist eine Bewegung. Sie kommt von innen. Fall geschlossen. Für uns eine...
(Er zeigt mit einer verächtlichen Geste auf DIE KRANKHEIT.)
DIE KRANKHEIT (gähnt leise und ausgiebig): Langsam. Ich? Sehen Sie sich das Gewebe an. Eine Schwäche. Eine Prädisposition. Der Körper ist kein perfekter Mechanismus. Dinge gehen kaputt. Von innen heraus. Ein schleichender Prozess, der sich in einem lauten Knall manifestierte. Es ist, als würde ein rostiges Rohr platzen. War der Wasserdruck der Unfall? Nein. Der Rost war die Krankheit. Der Vorfall ist also lediglich ein Symptom. Für uns ein...
(Sie zeigt mit einer trägen Geste auf DEN UNFALL.)
DER BETROFFENE (springt auf, verzweifelt): Aber... das spielt doch keine Rolle! Der Arzt hat die Physio angeordnet! Es war medizinisch notwendig! Ich hätte das doch sonst nie gemacht! Ich bin seit 20 Jahren bei Ihnen versichert und habe nie etwas gebraucht!
(DER UNFALL und DIE KRANKHEIT sehen ihn an, als wäre er ein Insekt. Sie sprechen gleichzeitig, aber völlig unkoordiniert, und schaffen eine Kakophonie der Ablehnung.)
DER UNFALL: Irrelevant! Regelwerk Paragraph 7, Absatz B! Definitionssache! Keine äußere Einwirkung!
DIE KRANKHEIT: Zuständigkeit nicht gegeben! Degenerativ! Interner Prozess! Kein versicherter Tatbestand!
(Beide drehen ihm den Rücken zu und verschränken die Arme. Sie haben ihre Position eingenommen. Die Pattsituation ist perfekt. Die Rechnung bleibt in der Mitte.)

Epilog: Die Rechnung
(Die beiden Gestalten ziehen sich langsam in den Schatten zurück. Der Betroffene steht allein im Scheinwerferlicht. Er sieht erschöpft und besiegt aus. Leise rieseln von der Decke Papierzettel auf ihn herab – Rechnungen. Für die Notaufnahme. Die Spezialisten. Die Physio.)
DIE SOUFFLEUSE (tritt nach vorne. Ihre Stimme ist kalt und klar.): Und so endet das Duell. Mit einem Unentschieden. Und bei einem Unentschieden zwischen den Giganten gibt es immer einen Verlierer: den Menschen. Es ging nie darum, ihm zu helfen. Es ging darum, ihn zu klassifizieren. Ihn in die richtige Schublade zu stecken, damit die richtige Abteilung die Zahlung verweigern kann.
Er hat jahrzehntelang sein Schutzgeld bezahlt. In dem naiven Glauben, dass das System für ihn da ist, wenn er einmal stolpert. Aber das System ist nicht für ihn da. Es ist für sich selbst da. Es ist ein perfekt geschlossener Kreislauf der Selbstabsicherung, in dem das Risiko immer wieder bei dem landet, der es eigentlich abgeben wollte.
Man fragt sich, wofür wir Versicherungen haben. Die Antwort ist einfach: Damit Versicherungen existieren können. Das Haus gewinnt immer.
Wie steht’s bei Ihnen? Unfall? Krankheit? Oder zahlen Sie schon freiwillig alles selbst?
(Der Vorhang fällt auf den im Rechnungsregen stehenden BETROFFENEN.)
