
BodyBattery: Hoffnung in Blau, Realität in Grau
Wenn ein Wert nicht den Menschen, sondern das System diagnostiziert.
Mein Fitness-Tracker ist mein ehrlichster Kollege. Er lügt nicht, er verhandelt nicht, er kennt keine sozialen Konventionen. Er misst einfach. Und einer seiner Werte ist zu einem gnadenlosen Kompass geworden: die BodyBattery.
Die Prämisse ist simpel wie ein Lichtschalter: Morgens im blauen Bereich starten, idealerweise bei 100%. Das ist die Hoffnung. Über den Tag entlädt sich die Batterie und fällt in den grauen Bereich. Das ist die Realität des Verbrauchs. Abends im Bett sollte sie sich wieder aufladen. Sollte.
Die meisten kennen die Symptome einer hohen Grundanspannung: Du bist todmüde, aber kannst nicht gähnen. Dein Kopf rast, obwohl dein Körper kapituliert hat. Du schläfst acht Stunden und wachst auf, als hättest du gegen einen LKW gekämpft und verloren.
Die BodyBattery übersetzt dieses Gefühl in eine kalte, unbestechliche Zahl.
Auszüge aus dem Logbuch einer Entladung:
Hier sind keine Weisheiten, nur Daten. Das Protokoll der letzten Jahre. Vielleicht erkennst du dein eigenes Logbuch darin.
- Der Urlaubs-Reset: Es brauchte einen dreiwöchigen, kompletten System-Reset im Sommer – ohne Mails, ohne Termine –, nur um die Grundlinie von 100% Blau überhaupt wieder zu erreichen. Nicht, um sie zu halten. Um sie zu sehen.
- Der externe Eingriff: Eine professionelle Fußreflexzonen-Massage lädt die Batterie effektiver und schneller als eine Stunde Tiefschlaf in einer normalen Arbeitswoche. Das System lässt keine echte Ruhe mehr zu; sie muss von außen erzwungen werden.
- Die Illusion vom Wochenende: Das vom System vorgesehene Mini-Reset – das klassische Wochenende – ist in der Kurve kaum von einem regulären Arbeitstag zu unterscheiden. Die Linie bleibt flach und grau. Keine Erholung. Nur eine Pause der Entladung.
- Die Sinn-Kalkulation: Die Batterie entlädt sich am steilsten nicht durch Arbeitsstunden, sondern durch sinnlose Tätigkeiten und erzwungene soziale Interaktionen. Sinnstiftende Arbeit hingegen wirkt wie ein Energiesparmodus. Sie verbraucht Energie, aber sie zehrt nicht aus.

Die Diagnose
Was mir diese Kurve über Monate und Jahre sagt, ist eine unmissverständliche, unbequeme Wahrheit. Sie ist der härteste Beweis in meinem persönlichen Prozess gegen das System.
Mein Körper ist nicht defekt.
Er funktioniert exakt so, wie er soll.
Das System ist es.
Und hier beginnt die große Lüge der Selbstoptimierung. Uns werden Achtsamkeit-Apps, Atemtechniken und Yoga-Pausen als Lösung verkauft. Sie füllen unsere ohnehin schon überladenen To-do-Listen und geben uns die Verantwortung für ein Problem, das wir nicht geschaffen haben.
Sie sind nichts weiter als ein Versuch, uns beizubringen, wie wir länger in einem kaputten System durchhalten. Sie sind der Tropfen auf dem heißen Stein.
Und solange das System meinen Stein ungeschützt in der prallen Sonne liegen lässt, kann ich so viele Tropfen darauf geben, wie ich will.
Und ich – verbrannt.
