
Atlas der leisen Symptome
Eine poetische Kartografie des Körpers in Konfrontation™
Es beginnt oft mit etwas Kleinem.
Einer Spannung. Einem Knoten. Einem Ziehen.
Der Körper weiß Dinge,
lange bevor der Kopf Worte dafür hat.
Dieser Atlas erzählt davon.
Nicht als Diagnose.
Sondern als poetische Kartografie.
Ein stilles Zeugnis.
Für alles, was nie laut sein durfte –
und dennoch wahr war.
Inhaltsverzeichnis

Das vibrierende Bein
Es zittert nicht.
Es zuckt nicht.
Es summt.
Ein fast unsichtbares Vibrieren,
wie ein Ton,
den nur dein Nervensystem hören kann.
Es beginnt,
wenn du zu lange
zwischen „Sitz still“
und „Lauf weg“ feststeckst.
Es pulsiert,
wenn der Körper handeln will,
aber das System noch wartet
auf den richtigen Zeitpunkt.
Die Genehmigung.
Die Ausrede.
Dieses Bein weiß längst,
was du tust,
wenn du frei wärst.
Und manchmal,
während das Meeting noch läuft,
spielt es die Zukunft schon einmal durch.
Die kalten Hände
Sie sind nicht die Folge der Raumtemperatur.
Sie sind das Echo einer inneren Vereisung.
Sie werden kälter,
wenn du in einer Besprechung sitzt
und innerlich auscheckst.
Wenn die Energie nicht mehr in die Interaktion fließt,
sondern sich zurückzieht. Ins Zentrum. Zum Schutz.
Sie sind die physische Manifestation
des unsichtbaren Rückzugs.
Der stille Beweis, dass dein System
gerade nicht mehr "anwesend" ist,
sondern im Standby-Modus überlebt.
Die kalten Hände sind kein Kreislaufproblem.
Sie sind die Thermometer deiner Seele,
die dir zeigen,
wo du gerade aufgehört hast,
warm zu sein.
Die blockierte Schulter
Sie spricht zuerst.
Lange vor der Deadline, lange vor dem Burnout.
Ein leises Ziehen, dann ein Verhärten.
Sie ist der erste Teil von dir, der „Nein“ sagt.
Nicht laut. Nicht als Beschwerde.
Sondern als Fakt.
Als eine physische Grenze, an der die Willenskraft des Systems zerbricht.
Sie ist die ehrliche Sekretärin deiner Kapazität,
die stumm die Akten des „Zu viel“ sortiert
und den Notausgang verriegelt,
bevor das ganze Gebäude brennt.
Der Knoten im Magen
Er ist nicht Hunger. Er ist nicht Übelkeit.
Er ist der stumme Archivar deiner Grenzen.
Er meldet sich, lange bevor dein Mund "Ja, klar, mach ich" sagt.
Er zieht sich zusammen, wenn ein Meeting gebucht wird,
dessen einzige Agenda deine unausgesprochenen Zweifel sind.
Er verhärtet sich, wenn du eine E-Mail schreibst,
in der jedes zweite Wort eine höfliche Lüge ist.
Der Knoten im Magen ist keine Verdauungsstörung.
Er ist der letzte ehrliche Muskel in deinem Körper,
der sich weigert, Unverdauliches zu schlucken.
Der physische Beweis,
dass deine Seele
gerade etwas probiert hat,
was ihr nicht schmeckt.
Die wandernde Schwere
Sie beginnt im Becken.
Wandert in die Lenden.
Manchmal steigt sie bis zwischen die Schulterblätter.
Sie ist nicht Schmerz.
Nicht Müdigkeit.
Sie ist Gewicht.
Ein Gewicht, das nicht gehoben werden will,
sondern getragen.
Langsam.
Bewusst.
Die wandernde Schwere kennt keinen Grund.
Sie widerspricht der Logik der Kalender
und dem Optimismus der Mails.
Sie tritt auf,
wenn zu viel Unausgesprochenes
durch den Körper sickert.
Und sie bleibt.
Solange,
bis der erste ehrliche Satz
aus dem Mund fällt.
Der flache Atem
Es ist nicht Atemnot. Es ist keine Krankheit.
Es ist der stille Streik deiner Lungen.
Der Moment, in dem du merkst,
dass du seit Minuten – oder Stunden –
nicht mehr tief in deinen Bauch geatmet hast.
Nur noch kleine, flache Züge,
gerade genug, um nicht umzukippen.
Es ist der automatische Energiesparmodus
eines Systems, das weiß:
Jeder tiefe, bewusste Atemzug
würde die angestaute Flut der Gefühle lösen –
den Frust, die Wut, die Traurigkeit.
Der flache Atem ist der Damm, den dein Körper baut.
Ein verzweifelter, unbewusster Versuch,
das, was wirklich in dir tobt,
unter Wasser zu halten.
Nur um weiter zu funktionieren.
Der trockene Atem
Er kommt nicht mit Husten.
Nicht mit Fieber.
Er ist nicht „krank“.
Er ist das feine Flattern im Brustkorb,
wenn du zu lange in Räumen warst,
die nicht atmen.
Meetings, in denen kein Fenster je geöffnet wird.
Systeme, die kein Echo dulden.
Flure, in denen du vergisst,
dass Luft etwas ist, das getragen werden will.
Der trockene Atem ist kein Versagen.
Er ist das leise Protokoll
deiner Lungen.
Sie flüstern:
„Hier fehlt etwas.
Nicht Sauerstoff.
Resonanz.“
Der Film vor den Augen
Er ist nicht Schwindel. Es ist kein Kreislaufproblem.
Es ist der subtile Vorhang, der fällt.
Mitten in einem Satz, mitten in einer Aufgabe.
Plötzlich schaut dein Verstand nicht mehr nach draußen,
auf den Bildschirm, auf das Meeting, auf das Problem.
Sondern nach innen.
Für den Bruchteil einer Sekunde
verlieren die Worte ihren Sinn.
Der Raum wird unscharf.
Ein leichter Film legt sich über die Realität,
als würde das Gehirn kurz umschalten
auf einen anderen Kanal.
Es ist der stille Protest eines überreizten Geistes.
Ein Mikro-Shutdown. Die Sicherung, die rausfliegt,
um einen kompletten Systemabsturz zu verhindern.
Der Film vor den Augen ist nicht Blindheit.
Er ist der Beweis,
dass ein Teil von dir
gerade dringend
etwas anderes sehen muss.
Auch wenn es nur Stille ist.
Die vibrierende Stimme
Sie zittert nicht,
weil du nervös bist.
Sie zittert,
weil du zu lange
nicht als Ganzes gesprochen hast.
Sie beginnt
nicht in der Kehle,
sondern viel tiefer.
In der Brust. In der Bauch.
Weil der Körper spricht,
während der Kopf noch schweigt.
Sie zittert, wenn du das erste Mal „Ich glaube...“ sagst,
in einem Raum, der nicht dafür gebaut wurde.
Sie wird brüchig,
wenn du gleichzeitig gesehen
und unversehrt bleiben willst.
Die vibrierende Stimme
gehört nicht zu einem Fehler.
Sondern zu einem Moment der Wahrheit.
Sie ist der Riss
zwischen Mut und Zensur.
Ein Klang,
der zittert,
weil er das Echo
einer Entscheidung trägt.
Die brennende Zunge
Sie kommt nicht mit Fieber.
Sie kommt mit Gesprächen.
Meist später –
nach einem Tag voller Meetings,
in denen du zu viel gesagt hast,
was du nicht meintest.
Oder zu wenig
von dem, was eigentlich gesagt werden wollte.
Sie brennt nicht wegen Kaffee.
Sie brennt,
weil sie sich selbst überhört hat.
Die brennende Zunge
ist kein medizinischer Vorfall.
Sie ist ein poetischer Rückstau:
Der Schmerz eines inneren Skripts,
das zu lange unterbrochen wurde.

Der Körper hat gesprochen. Nun wäre der Mensch am Zug.
Vielleicht beginnt es wieder.
Vielleicht ist das nächste Symptom bereits unterwegs.
