
Akt der kollektiven Selbstlosigkeit – oder: Die Geiselnahme der guten Absichten
Ein Stück über den Tugendwettbewerb am Aperotisch.
(Die Bühne: Ein karger, überhitzter Meetingraum, der eilig zum Festsaal umfunktioniert wurde. Die Fenster sind beschlagen. In der Mitte steht ein Tisch – DER APEROTISCH – beladen mit welkem Rucola, schwitzendem Käse und ungeöffneten Flaschen Prosecco. Die Luft ist dick mit CO2 und unausgesprochenem Groll.)
Dramatis Personae:
- ANNA: Unsere Protagonistin. Ihr innerer Akku blinkt rot.
- TINE: Die Meisterin der oberflächlichen Konversation.
- BIRGIT & MARKUS: Das Geburtstagspaar. Heute in der Rolle der grossen Wohltäter.
- DER CHOR DER UNFREIWILLIGEN PHILANTHROPEN: Eine schwitzende, schwankende Masse von Angestellten.
- DER APEROTISCH: Ein stummer Zeuge des Verfalls.
- DIE SOUFFLEUSE: Exzellent gelaunt, denn Leid ist ihre liebste Nahrung.
🎁 Zwischen Käsewürfeln und Klimaanlage: die Pflichtveranstaltung der Gefühle.
Erster Akt: Die Herbeorderung
(Der CHOR steht dicht gedrängt im Raum. Niemand wagt es, sich dem APEROTISCH zu nähern. Es ist die heilige Wartezeit vor der Ansprache. ANNA lehnt an einer Wand und versucht, durch die Nase zu atmen, ohne ohnmächtig zu werden. Ein Kollege neben ihr schwankt bedenklich.)
DIE SOUFFLEUSE (flüstert genüsslich): Seht sie euch an. Die rituelle Zusammenkunft. Nicht zur Feier einberufen, sondern zur Darbietung kollektiver Wertschätzung. Ein soziales Pflichtprogramm, dem sich niemand ohne Hochverrats-Anklage entziehen kann. Die Hitze im Raum ist nichts im Vergleich zur Hitze des unausgesprochenen Wunsches, einfach wieder am eigenen Schreibtisch zu sitzen.

Zweiter Akt: Das Spenden-Evangelium
(Die Chefin hält eine kurze, generische Ansprache, übergibt einen dicken Briefumschlag an BIRGIT & MARKUS. Applaus. Nun treten die beiden nach vorne. Eine andächtige Stille legt sich über den Raum. Dies ist der Moment, auf den niemand gewartet hat.)
BIRGIT (hält den Umschlag wie eine heilige Reliquie. Ihre Stimme bebt vor inszenierter Rührung.): Danke… danke euch allen! Markus und ich, wir haben lange überlegt, was wir uns wünschen. Und wir sind zu dem Schluss gekommen: Wir haben alles. Aber nicht alle haben das. (Sie macht eine Kunstpause, blickt in die betroffenen Gesichter.) Darum haben wir uns entschieden, euer grosszügiges Geschenk… dieses Zeichen eurer Zuneigung… vollumfänglich gemeinsam zu transformieren!
(Ein Raunen geht durch den CHOR. Einige nicken anerkennend, andere erstarren.)
MARKUS (übernimmt): Ganz genau. Wir haben intensiv recherchiert. Und unser Herz schlägt dieses Jahr für ein ganz besonderes Projekt: die Wiedereingliederung von bedürftigen Eichhörnchen in urbanen Brennpunkten. Jeder Euro hilft, einem kleinen Nager eine fair gehandelte Nuss und ein neues Zuhause zu geben. Eure Spende macht das möglich!
DIE SOUFFLEUSE (kann sich kaum halten vor Freude): Und BÄM! Der moralische Hinterhalt! Aus einem einfachen Geburtstagsgeschenk wird ein soziales Ablass-Zertifikat. Wer eben noch dachte, er würde Birgit eine Freude mit einem Beitrag zur neuen Yogamatte machen, finanziert jetzt Eichhörnchen-Therapie. Sich darüber aufzuregen, wäre Verrat an der guten Sache. Ein genialer Schachzug! Du bist kein Kollege mehr, du bist ein Gutmensch auf Abruf! Chapeau!
(BIRGIT & MARKUS umarmen sich unter tosendem, gequältem Applaus. Der CHOR DER UNFREIWILLIGEN PHILANTHROPEN lächelt, während die Seelen leise weinen.)

Dritter Akt: Das Gebrabbel und die Verweigerung der Realität
(Das Signal zum Sturm auf den APEROTISCH ist gefallen. Innerhalb von Sekunden entsteht eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse – eine „Wall of Sound“ aus Geklapper, Gerede und dem verzweifelten Plopp einer Proseccoflasche.)
DER APEROTISCH (leidet stumm, während Finger und Gabeln auf ihm herumstochern.)
(ANNA hat sich ein Glas Wasser geschnappt und versucht, eine stille Ecke zu finden. Da materialisiert sich TINE neben ihr, mit einem Teller voll schwitzendem Käse.)
TINE (schreit fast, um das Gebrabbel zu übertönen): NA ANNA, ALLES GUT BEI DIR?
ANNA (entschliesst sich für einen kurzen, ehrlichen Moment): MÜDE.
(Eine Stille. Kein Satz folgt. Nur Lärm. TINEs Lächeln gefriert für den Bruchteil einer Sekunde. Ihr Gehirn rattert: Error 404 - Antwort nicht im Skript gefunden. Sie nickt dann aber wissend und schaltet sofort in den Safe Mode.)
TINE (noch lauter, mit übertriebener Fröhlichkeit): AJA, GUT! SCHÖN, SCHÖN! SAG MAL, WAS SIND DEINE URLAUBSPLÄNE FÜR DEN SOMMER?!
DIE SOUFFLEUSE: Ah, der soziale Neustart. Tine hat den Systemfehler – Annas nicht-konformen Gemütszustand – erkannt und das Programm elegant neugestartet. „Müde“ ist im Vokabular der Zwangsfreude nicht vorgesehen. Es ist ein Störgeräusch. Urlaubspläne hingegen sind eine sichere Währung. Sie signalisieren Erfolg, Zukunft und dass alles in bester Ordnung ist. Eine meisterhafte Verweigerung der Realität.

Epilog
(ANNA blickt TINE an, lässt die Frage nach dem Urlaub unbeantwortet im Lärm des Raumes verhallen, murmelt eine Entschuldigung und flüchtet. Auf dem Flur atmet sie das erste Mal seit einer Stunde wieder richtig durch.)
DIE SOUFFLEUSE (tritt aus ihrem Kasten, nimmt einen Schluck Wein und blickt dem Publikum direkt in die Augen): Es ging heute nicht um Birgit und Markus. Es ging auch nicht um die Eichhörnchen. Es ging um eine öffentliche Demonstration von moralischer Überlegenheit, finanziert durch die Geiselnahme guter Absichten. Das Geld war nur der Treibstoff für die grosse Selbstinszenierung. Und die einzig ehrliche Antwort des Abends – „Müde“ – wurde als Systemfehler behandelt und gelöscht. Willkommen im Theater der Arbeit. Hier wird nicht gelebt, hier wird performt. Bis der Vorhang fällt. Oder der Akku leer ist.
(Der Vorhang fällt. Man hört in der Ferne das leise, triumphale Knabbern eines Eichhörnchens.)

Nachsatz: Fundstück aus dem Nagernetzwerk
(leicht abgeknickt, zwischen zwei Sitzungsprotokollen eingeklemmt)
🐿️ „Ich wollte nur eine Nuss.“
Jetzt steht es da.
Mit weit aufgerissenen Augen.
Papierstapel wehen im Wind, Münzen kullern über den Waldboden.
Spendenformulare flattern von den Bäumen wie herbstliche Mahnungen.
In der Pfote: ein Schild. Darauf: „DONATION“.
Darunter ein unsichtbares „…bitte…?“ – irgendwo zwischen Überforderung und innerem Zusammenbruch.
Ein stilles Symbol jener Wesen,
die eigentlich einfach nur leben wollten.
Und jetzt für gute Zwecke performen sollen.
(Applaus aus dem Unterholz.)
